Midazolam bei Status epilepticus

Midazolam (Dormicum® u.a.) wird seit den 1990er Jahren zur Behandlung eines konvulsiven Status epilepticus verwendet und steht bei Kindern und Jugendlichen mittlerweile an erster Stelle für die Akutbehandlung von Krampfanfällen. Zu diesem Thema ist in der unabhängigen Zeitschrift «Australian Prescriber» ein Artikel erschienen (1), der die Grundlage bildet für die folgende Kurzübersicht.

Behandlung des Status epilepticus

Die meisten konvulsiven Anfälle enden ohne spezifische Massnahmen innerhalb von wenigen Minuten. Dauern sie länger als 5 Minuten – unter Umständen auch in repetitiver Form, ohne dass dazwischen das Bewusstsein erlangt wird –, sind sie als (beginnender) Status epilepticus einzustufen. Jeder konvulsive Anfall, der über 5 Minuten anhält, sollte wegen der Gefahr von irreversiblen neuronalen Schäden oder anderen Komplikationen medikamentös behandelt werden, und zwar möglichst rasch, weil mit zunehmendem Fortgang eines Anfalls die Wirksamkeit von Antiepileptika abnimmt (2,3). Manchmal muss beim Versuch, einen Anfall zu stoppen, die Verabreichung des Notfall-Antiepileptikums wiederholt werden – was insofern als ungünstig zu bewerten ist, als das Risiko von medikamentenbedingten Komplikationen erhöht und unter Umständen eine als indiziert betrachtete Zweittherapie verzögert wird.

Medikamente der ersten Wahl

Benzodiazepine gelten als Mittel der Wahl, weil sie einen konvulsiven Status epilepticus meistens rasch und zuverlässig stoppen. Über lange Zeit wurde hauptsächlich Diazepam (Valium® u.a.) verwendet, das intravenös oder rektal verabreicht wird. Diazepam ist eine sehr lipophile Substanz, die schnell ins Gehirn gelangt, sich aber ebenfalls rasch in periphere Gewebe zurückverteilt. Deshalb dauert die Wirkung oft nur 20 bis 30 Minuten, so dass die Verabreichung wiederholt werden muss. Auch kann die rektale Anwendung in der Öffentlichkeit mit Hemmnissen verbunden sein. Für eine intravenöse Verabreichung steht als Alternative Lorazepam (Temesta®) zur Verfügung. Lorazepam ist weniger lipophil als Diazepam, weshalb die Wirkung nicht so schnell eintritt, jedoch – als Vorteil – länger anhält. Clonazepam (Rivotril®), das ebenfalls intravenös injiziert wird, ordnet sich bezüglich Lipophilie zwischen Diazepam und Lorazepam ein und kann sich als Kompromiss anbieten. Dementsprechend ist Clonazepam in mehreren Ländern das bevorzugte Mittel. Im Gegensatz zu den anderen Benzodiazepinen gibt es allerdings für Clonazepam praktisch keine kontrollierten Daten zur Anwendung beim Status epilepticus. Midazolam ist unter diesen Benzodiazepinen am besten wasserlöslich und kann nicht nur intravenös oder intramuskulär gespritzt werden, sondern wird auch über die Wangen- oder Nasenschleimhaut aufgenommen. Nach der Resorption schliesst sich beim physiologischen pH-Wert die Ring-Struktur von Midazolam, was mit einer deutlichen Zunahme an Lipophilie und einem raschen Übertritt ins Gehirn einhergeht (4). Wegen der Möglichkeit der bukkalen oder intranasalen Verabreichung wird Midazolam als Mittel der Wahl für die Behandlung von tonisch-klonischen Anfällen propagiert – vor allem bei Kindern und wenn kein intravenöser Zugang zur Verfügung steht. Diese Einstufung wird durch eine Metaanalyse untermauert, die zeigte, dass sich Krampfanfälle mit bukkalem, intranasalem oder intramuskulärem Midazolam gleich gut unterbrechen lassen wie mit intravenösem oder rektalem Diazepam. Bukkales Midazolam wirkte sogar besser als rektales Diazepam. Da Midazolam in der beschriebenen Weise rascher verabreicht ist als Diazepam, scheint es auch die Gesamtzeit bis zur Beendigung eines Krampfanfalls zu verkürzen (5).

Medikamente der zweiten Wahl

Bei einem konvulsiven Status epilepticus, der auf Benzodiazepine nicht anspricht, müssen zusätzliche Antiepileptika eingesetzt werden. Einer Metaanalyse zufolge sind Valproinsäure (Depakine® u.a.), Phenobarbital und Levetiracetam (Keppra® u.a.) hierfür am besten geeignet. Die Meinung, dass Phenytoin (Phenhydan®) als Mittel der Wahl bei Benzodiazepin-resistenten Fällen zu betrachten sei, wird durch diese Datenrecherche nicht bestätigt (6).

Dosierung und Verabreichung von Midazolam

Bei der bukkalen Anwendung spritzt man Midazolam-Lösung langsam in die Wangentasche, wobei man bei kleinen Kindern bzw. bei einer grösseren Dosis die Menge auf beide Seiten aufteilen soll. Wegen der Aspirationsgefahr ist zu verhindern, dass die Midazolam-Lösung in den Rachen gelangt. Neben den gängigen Ampullen sind unter dem Namen Buccolam® auch verschieden grosse Fertigspritzen in einer Konzentration von 5 mg/ml erhältlich (die aber offiziell nur für Kinder zugelassen und mehrfach teurer sind als Ampullen).

Ebenso einfach ist die intranasale Verabreichung. Benötigt wird indessen ein konisch geformter Zerstäuber («Mucosal Atomization Device», MAD-Nasal®), der auf die Spritze mit der Midazolam-Lösung aufgesetzt wird. (Zum Formellen: In der Schweiz sind die Midazolam-Lösungen in Ampullen weder für die Epilepsiebehandlung noch für eine bukkale oder intranasale Verabreichung behördlich genehmigt.)

Als initiale Dosis für die bukkale oder intranasale Midazolam-Verabreichung werden bei Kindern 0,3 mg/kg (maximale Bolusdosis 10 mg) (7) und bei Erwachsenen 10 mg empfohlen. Die Resorption dauert 1 bis 3 Minuten; bis zum Wirkungseintritt können bis 10 Minuten verstreichen. Frühestens nach 5 Minuten kann die Verabreichung wiederholt werden, wenn die Erstdosis keine Wirkung zeitigt. Die Anfangsdosis bei intramuskulärer oder intravenöser Verabreichung (z.B. durch Rettungsdienste) beträgt bei Kindern 0,15 mg/kg (maximale Bolusdosis 5 mg i.m. oder 2,5 mg i.v.) und bei Erwachsenen 5 mg i.m. bzw. 2,5 mg i.v. (8).

Verabreichung durch Betreuungspersonen

Wenn Kinder häufig an länger dauernden Krampfanfällen leiden, kann man Midazolam zur bukkalen oder intranasalen Verabreichung in die Hände der Eltern oder von anderen Betreuungspersonen geben. Sie können, sofern gut instruiert, beim Auftreten eines Krampfanfalls die Erstverabreichung des Medikamentes übernehmen. Wie Erfahrungen in Australien zeigen, trägt das dazu bei, dass sich Hospitalisationen wegen prolongierter Krampfanfälle vermindern lassen (9).

Die «technischen» Kenntnisse der Eltern sollten periodisch überprüft werden. Probleme, die von Eltern häufig geäussert werden – zum Beispiel, dass das Midazolam nach bukkaler Verabreichung wieder herausfliesst oder bei nicht vollständig bewusstlosen Kindern geschluckt wird –, sind ebenfalls anzusprechen: Gegen das Herausfliessen hilft es, wenn man von aussen Lippen oder Mund leicht zusammendrückt; geschlucktes Midazolam stellt keine Gefahr dar, wirkt aber weniger schnell.

Midazolam, das Betreuungspersonen überlassen wird, sollte nur von einer ärztlichen Person rezeptiert und nur von einer Apotheke abgegeben werden, damit Übersichtlichkeit gewahrt und das Medikament nicht missbraucht wird. Midazolam-Lösung ist in unterschiedlicher Konzentration erhältlich. Bei der Verschreibung sollte man sich auf die meistverwendete Konzentration von 5 mg/ml beschränken, um Dosierungsfehler zu vermeiden. Ferner sollte man Eltern darauf hinweisen, dass Milligramm und Milliliter auseinanderzuhalten sind, dass sich die Dosis mit dem Wachstum ändert und dass die intranasale Verabreichung bei einer Rhinitis oder verstopften Nase ungeeignet ist.

Unerwünschte Wirkungen

Als häufigste Nebenwirkungen von Midazolam beobachtet man – auch nach bukkaler oder intranasaler Verabreichung – Sedation, Ataxie, Verwirrtheit, Amnesie, Reizbarkeit, Euphorie, Kopfschmerzen, Übelkeit und Schluckauf. Eine relevante Atemdepression ist nach einer Einmaldosis selten; bei kumulativen Dosen sollten aber Hilfsmittel zur Beatmung greifbar sein. Insgesamt werden schwerwiegende Komplikationen bei fachgerechter Anwendung als unwahrscheinlich bezeichnet. Die intranasale Applikation kann ein Stechen oder andere Zeichen einer lokalen Irritation hervorrufen (Nasenlaufen, tränende Augen) und sollte bei Kindern, die noch bei Bewusstsein sind, nicht durchgeführt werden.

Schlussfolgerungen

Unter den Benzodiazepinen ist Midazolam bei der Behandlung eines konvulsiven Status epilepticus in den Vordergrund gerückt. Korrekt angewendet, handelt es sich um ein wirksames, relativ sicheres Medikament sowohl für Kinder wie für Erwachsene. Midazolam kann im Notfall auch von Eltern oder anderen Betreuungspersonen verabreicht werden, wenn sie vorgängig angeleitet worden sind.

Standpunkte und Meinungen

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Midazolam bei Status epilepticus (11. April 2017)
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