Vioxx: eine Wende?

ceterum censeo

Als Joan-Ramon Laporte, der Herausgeber des unabhängigen katalanischen Arzneimittelbulletins, zu Beginn des Jahres 2004 vor Gericht zitiert wurde, weil die Firma Merck Sharp & Dohme (MSD) mit seinen Aussagen über Rofecoxib (Vioxx®) nicht einverstanden war, hätte kaum jemand gedacht, dass Rofecoxib noch im gleichen Jahr auf der Anklagebank sitzen würde. Laporte hatte in einem Artikel seines Butlletí Groc festgehalten, die sogenannten Vorteile von Celecoxib (Celebrex®) und Rofecoxib entsprächen einem wissenschaftlichen Betrug.(1) Er stützte sich dabei im Wesentlichen auf Texte, die 2002 in den Zeitschriften Lancet und British Medical Journal erschienen waren.(2,3) In Bezug auf Rofecoxib wies er insbesondere auf die Resultate der im Jahr 2000 publizierten VIGOR-Studie hin,(4) die eine kardiovaskuläre Toxizität von Rofecoxib vermuten liessen. Gemäss Laporte wurden den europäischen Arzneimittelbehörden wissenschaftliche Daten zu Celecoxib und Rofecoxib in einer Art und Weise vorgelegt, die in erster Linie den wirtschaftlichen Interessen der Firmen diente, die Gesundheit der behandelten Personen jedoch nicht genügend berücksichtigte. Ob gerichtliche Instanzen die geeigneten Gremien sind, um über Fragen der wissenschaftlichen Korrektheit zu entscheiden, muss wohl als sehr fragwürdig bezeichnet werden. Immerhin wurde Laporte freigesprochen.

Ende September 2004 wurde Rofecoxib weltweit aus dem Handel gezogen. Was sind die Folgen für die pharmazeutische Industrie, für die Arzneimittelbehörden, für uns alle? Diese Frage möchte ich hier in zwei Kapiteln zu beantworten versuchen. Es genügt nämlich nicht, die Diskussion auf Rofecoxib und andere «Coxibe» zu beschränken – genau so wichtig ist es, einige allgemeine Aspekte genauer unter die Lupe zu nehmen.

Die COX-2-Hemmer

Rofecoxib ist wegen seiner kardiovaskulären Toxizität zu Fall gekommen. Auf Grund einer bisher nicht veröffentlichten Schätzung eines Spezialisten der amerikanischen Arzneimittelbehörde (FDA) haben in den USA zwischen 88'000 und 139'000 Personen wegen Rofecoxib einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall erlitten, mit einer Mortalität im Bereich von 30 bis 40%.(5) Da drängt sich natürlich die Frage auf, ob man denn wirklich bis im September 2004 warten musste, bis man sich über die Gefahr für Herz und Kreislauf im Klaren war. Schon bald nach der Publikation der VIGOR-Studie hatten unabhängige Forscher gefordert, dass die kardiovaskulären Auswirkungen der COX-2-Hemmer in einer prospektiven Studie speziell geprüft werden sollten.(6) Die Hersteller von Rofecoxib propagierten jedoch, der in der VIGOR-Studie festgestellte Unterschied beruhe nicht auf einer ungünstigen Wirkung von Rofecoxib, sondern auf einer kardioprotektiven Wirkung von Naproxen (Proxen® u.a.). Die Aussagekraft der in der Folge veröffentlichten drei Fall-Kontroll-Studien, die eine etwas geringere Herzinfarktinzidenz unter Naproxen (gegenüber anderen Antirheumatika) möglich erscheinen lässt, ist jedoch bescheiden. In einer grossen Kohortenstudie liess sich zudem keine kardioprotektive Wirkung von Naproxen aufzeigen.(7)

Jedenfalls gelangt eine aktuelle Metaanalyse, die neben Naproxen als Vergleichssubstanzen auch Placebo und andere nichtsteroidale Entzündungshemmer miteinbezieht, zur Schlussfolgerung, Rofecoxib hätte auf Grund seiner kardiovaskulären Auswirkungen spätestens 2001 aus dem Handel genommen werden sollen.(8) Dass mit dieser Aussage sowohl die Herstellerfirma als auch die Arzneimittelbehörden herausgefordert sind, ist offensichtlich. Die Hersteller von Rofecoxib halten auch heute daran fest, die Gefahr für Herz und Kreislauf hätte sich erst erkennen lassen, als die neueste (noch nicht veröffentlichte) APPROVe-Studie eine gegenüber Placebo signifikante Häufung von Herzinfarkten und Schlaganfällen unter Rofecoxib zeigte. Diese Interpretation ist aus der Sicht der Firma verständlich, ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass MSD nun während Jahren einer adäquaten Klärung des seit der VIGORStudie bestehenden Verdachts auf kardiovaskuläre Nebenwirkungen aus dem Wege gegangen ist.

Im Gegensatz zur VIGOR-Studie zeigte die CLASS-Studie für Celecoxib gegenüber den Vergleichssubstanzen (Diclofenac ([Voltaren® u.a.] und Ibuprofen [Brufen® u.a.]) keine signifikant erhöhte Herzinfarkt-Rate, jedoch auch keine signifikant geringere Inzidenz gefährlicher gastro-intestinaler Komplikationen. (9) Ein Vergleich mit Daten aus anderen Studien liess aber schon 2001 vermuten, unter Celecoxib könnten ebenfalls vermehrt kardiovaskuläre Ereignisse auftreten.(6) Im Dezember 2004 ist nun eine Celecoxib-Studie abgebrochen worden, in
der das Medikament (400 oder 800 mg/Tag) als Prophylaxe bei Personen mit präkanzerösen Polypen gegen Placebo geprüft wurde (APC-Studie): Während der durchschnittlich knapp dreijährigen Studiendauer waren kardiovaskuläre Komplikationen (Herzinfarkt, Schlaganfall, Tod) unter Celecoxib doppelt bis dreimal häufiger als unter Placebo.(10) Obwohl andere Studien keine ähnliche Häufung zeigen, ist damit auch die Stellung von Celecoxib kompromittiert. Bereits wird empfohlen, möglichst niedrige Dosen von Celecoxib zu verschreiben und nach Möglichkeit andere Medikamente in Betracht zu ziehen.(11) Auch der neueste COX-2-Hemmer, Valdecoxib (Bextra®), hat in einer Studie im Vergleich zu Placebo mehr kardiovaskuläre Ereignisse verursacht. Bei dieser Studie handelte es sich um eine Untersuchung der analgetischen Wirkung nach einer koronaren Bypass-Operation; 1 bis 2% der Behandelten hatten unter Valdecoxib eine kardiovaskuläre Komplikation, unter Placebo waren es nur 0,5%.(12)

Ist das nun das Ende der COX-2-Hemmer? Diese Frage wird wohl einmal mehr in den USA beantwortet werden. Bis im Februar 2005 will die FDA sämtliche vorhandenen Studiendaten neu beurteilen und dann entscheiden. Es besteht wenig Zweifel, dass ein Verbot von Celecoxib in den USA zur Folge hätte, das auch dieses Medikament in der ganzen Welt «freiwillig» aus dem Handel gezogen würde.

Wer denkt, die «konventionellen» Antirheumatika seien frei von Herz-Kreislauf-Gefahren, täuscht sich jedoch. Besonders bei Personen mit vorbestehender Herzinsuffizienz kann es zu einer Verschlechterung kommen. Unter nicht-steroidalen Entzündungshemmern steigt oft der Blutdruck an, auch werden negative Auswirkungen auf die Niere beobachtet. Alzheimer-Kranke, die Naproxen erhielten, hatten in einer neuen Studie mehr Herzinfarkte als solche, die mit Placebos behandelt wurden. (10) Ob es sich hier allerdings um einen bedeutsamen Befund handelt, kann vorläufig noch nicht gesagt werden. Die Metaanalyse früherer Naproxen-Studien zeigt nämlich einen (allerdings bescheidenen) kardioprotektiven Effekt von Naproxen.(8) Besonders ältere Leute, die häufig auch kardiovaskuläre Erkrankungen haben, benötigen nicht selten chronisch Antirheumatika. Es wäre deshalb sehr erfreulich, wenn wir Medikamente verschreiben könnten, die frei von gastrointestinalen Nebenwirkungen wären, aber auch keine Herz-Kreislauf-Probleme verursachten. Schade, solche Medikamente gibt es zur Zeit nicht.

Konsequenzen?

Zu Anfang des Jahres 2005 ist somit das weitere Schicksal der COX-2-Hemmer in der Schwebe. Hat die Vioxx-Katastrophe aber weitere Konsequenzen? Wird sich etwas ändern am Verhalten der Pharma-Industrie oder der Arzneimittelbehörden?

Viele Änderungen sind überfällig. Seit Jahren weise ich darauf hin, wie wichtig es wäre, mehr Transparenz zu den Arzneimitteldaten zu haben. Auch dann, wenn ein Medikament in den Handel kommt, ist nur ein sehr bescheidener Teil der zugehörigen Daten zugänglich. In der Regel weiss man nicht, ob es Studien gibt, die zwar angefangen, dann aber abgebrochen und nie veröffentlicht worden sind. Auch Studiendaten, die den Zulassungsbehörden vorgelegt werden müssen, sind der Öffentlichkeit oft nur in rudimentärer Form zugänglich. So ist es möglich, dass positive Seiten eines Medikamentes in den Vordergrund gerückt, Nachteile und negative Studien aber nicht erwähnt werden. Was mit den Daten der CLASS-Studie (mit Celecoxib) geschehen ist, sollte nicht mehr passieren dürfen. Von der CLASS-Studie wurden nur diejenigen Resultate veröffentlicht, die den ersten sechs Monaten der Studie entsprachen, (13) und die für Celecoxib recht positiv aussahen. Die Studie war aber auf eine längere Dauer angelegt. Dank der Tatsache, dass die FDA wenigstens einen Teil ihrer Unterlagen offenlegt, wurde später bekannt, dass sich bezüglich gastro-intestinaler Verträglichkeit keine signifikanten Unterschiede zwischen Celcoxib und den Vergleichssubstanzen ergeben hatten.(9) Es geht ganz einfach nicht an, dass sich ein Industriezweig, der sich mit Gesundheit und Krankheit befasst, so benimmt, als handle er mit Staatsgeheimnissen. Dass hier Remedur nötig (und möglich) wäre, sollte heute eigentlich allen einleuchten.

Unheilvoll ist auch das Streben der Firmen, Präparate zu kreieren, die innerhalb kürzester Zeit möglichst viel Geld eintragen sollten, sogenannte Blockbusters. Das Beispiel von Vioxx zeigt gut, wo dies hinführt. Hätte man die Frage des Gesamtnutzens (und nicht nur der gastrointestinalen Vorteile) mit der notwendigen Sorgfalt geklärt, so hätte die Einführung der COX-2- Hemmer nicht so schnell erfolgen können. Nicht nur in diesem Fall, sondern auch bei vielen anderen Medikamenten lässt sich der wahre Stellenwert erst nach jahrelangen Erfahrungen und sorgfältiger Beobachtung allfälliger Nebenwirkungen festlegen. Dies ist deshalb von Bedeutung, weil Personen mit bestimmten Risiken in den meisten Studien ausgeschlossen werden. In die VIGOR-Studie konnten beispielsweise keine Personen aufgenommen werden, die einen Herzinfarkt gehabt hatten oder einen Plättchenhemmer einnahmen. Besonders unglücklich ist in diesem Zusammenhang, wenn (wie in den USA) direkt beim allgemeinen Publikum geworben werden kann. Aber auch in Ländern wie in der Schweiz setzt die Industrie heute viel mehr als früher die allgemeine Presse zu ihrem Nutzen ein – einmal abgesehen von der Einflussnahme auf die Ärzteschaft via sogenannte Meinungsbildner.

Oft unklar, und im Fall von Vioxx besonders enttäuschend, ist die Rolle der Arzneimittelbehörden. Eine Hauptfunktion dieser Behörden ist der Schutz der Kranken (und Gesunden) vor Medikamenten, die kein zufriedenstellendes Nutzen/Risiko-Verhältnis aufweisen. Da bei Vioxx schon verhältnismässig früh Zweifel daran bestanden, dass dieses Mittel zu einer positiven Gesamtbilanz führt, hätten die Arzneimittelbehörden (besonders
die FDA) eingreifen und entsprechende Studien verbindlich vorschreiben sollen. Statt zu handeln, hat sich die FDA
aber mit den Argumenten der Hersteller abgefunden. Es wundert deshalb nicht, dass diese Behörde zur Zeit mit Vorwürfen bombardiert wird. Was liesse sich ändern? Bei der Neuzulassung von Medikamenten könnten vermehrt Auflagen gemacht werden, die zu einer zurückhaltenderen Verschreibungspraxis führen müssten. Bereits zugelassene Medikamente sollten aktiver überwacht werden, beispielsweise indem zusätzliche Studien vorgeschrieben würden, um die Arzneimittelsicherheit auch in der Alltagspraxis zu garantieren.

Die Vioxx-Katastrophe passt leider genau in das Zerrbild einer Pharma-Industrie, die sich in erster Linie um das Vermögen der Aktionärinnen und Aktionäre sorgt, aber an kranken Menschen wenig Interesse hat, es sei denn, diese dienten der Erzeugung hoher Umsätze. Das muss sich ändern. Denn grundsätzlich können wir uns ja nichts lieber wünschen als eine innovative und gut funktionierende Arzneimittelindustrie, die in der Lage ist, ihre Produkte so zu prüfen und zu überwachen, dass kranken Menschen ohne Schaden geholfen werden kann.

Etzel Gysling

Standpunkte und Meinungen

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Vioxx: eine Wende? (10. Januar 2005)
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pharma-kritik, 26/No. 10
PK117
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