Der Niedergang der Pharmaindustrie, Editorial von Etzel Gysling (kein Passwort nötig)

ceterum censeo

Profit margins, and not global health needs, determine how pharmaceutical companies allocate their research und development budgets.
James Orbinski in «An Imperfect Offering»

Als Schüler habe ich mit wachsender Begeisterung Bücher über die ungeheuren Möglichkeiten der Chemie gelesen. Die Perspektive, dank chemischer Forschung kranken Menschen «Erleichterung und Gesundung» zu verschaffen, fand ich ausserordentlich faszinierend. Auch später noch, als ich mich entschieden hatte, nicht Chemie, sondern Medizin zu studieren, blieb meine Bewunderung für die Forschenden in der pharmazeutischen Industrie intakt. Das idealistische Ziel, Kranken wirksam helfen zu können, ist wohl für Medizinerinnen und Mediziner nach wie vor die beste Motivation, eine hohe Arbeitslast und viele Frustrationen in Kauf zu nehmen. Dabei verspricht uns die Pharmakotherapie eine vergleichsweise einfache und oft zuverlässige Unterstützung. Wie ist es möglich, dass ich die Industrie, die uns diese wertvollen Mittel in die Hand gibt, heute als fragwürdige, rücksichtslos auf Gewinn ausgerichtete Branche ansehe? Die Antwort auf diese Frage möchte ich hier anhand von ein paar exemplarischen Fakten darlegen.

Studienresultate selektiv veröffentlicht

Diese Aussage war bis vor kurzem eher schwierig zu überprüfen, da noch bis in dieses Jahrhundert hinein nicht alle klinischen Studien öffentlich registriert wurden. Solange die Öffentlichkeit nichts von einer Studie weiss, solange kann sich auch niemand daran stören, dass Studienresultate nicht publiziert wurden.
Immerhin kann unter Umständen überprüft werden, welche Daten den Arzneimittelbehörden vorgelegt wurden und ob diese Daten auch allgemein bekannt sind. Dies hat eine Gruppe von Forscherinnen und Forschern in den USA anhand der Studien untersucht, die der amerikanischen Behörde (FDA) zur Wirksamkeit von Antidepressiva eingereicht wurden. Es handelte sich um Studien mit neueren Antidepressiva, insbesondere mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern. Von 74 Antidepressiva-Studien, die bei der FDA registriert wurden, sind 23 nie in einer Fachzeitschrift veröffentlicht worden. Nur eine einzige Studie, die gemäss der FDA positive Resultate ergab, wurde nicht veröffentlicht. In 22 der 23 nicht-veröffentlichten Studien konnte kein überzeugender Nutzen des untersuchten Antidepressivums nachgewiesen werden. Zudem fanden sich 11 Publikationen von Studien, deren Resultate von der FDA als unsicher beurteilt, in der Publikation aber als vorteilhaft dargestellt wurden. Wer sich daher auf die publizierten Studien verlässt, muss fast notwendigerweise zum Schluss kommen, die geprüften Antidepressiva seien in der Regel gut wirksam. Das Fazit lautet bei der FDA ganz anders: nur 51% der Studien ergaben positive Resultate. Die für diese Analyse Verantwortlichen sind sehr vorsichtig in der Interpretation ihrer Arbeit: Sie könnten nicht feststellen, ob es an den Sponsoren der Studien oder an der Redaktion der Fachzeitschriften liege, dass ausgerechnet die negativen Studienresultate nie zur Publikation gelangen.1 So oder so kann die Industrie mit der Sachlage zufrieden sein – je weniger negative Studienresultate bekannt werden, desto besser für das Marketing. Es bleibt nur zu hoffen, dass dieser lamentable Zustand zukünftig dank der Studienregistrierung ein Ende findet.

Qualität vernachlässigt

Vor einigen Monaten habe ich schon einmal darauf hingewiesen, dass die Pharmaindustrie offensichtlich nicht in der Lage ist, ihre Produktionsstätten so zu überwachen, dass die Qualität ihrer Medikamente gewährleistet ist.2 Nun hat sich schon wieder eine Katastrophe mit einem in China hergestellten, kontaminierten Wirkstoff ereignet. Es handelt sich um den Heparin-Grundstoff, der als Grundlage verschiedener Heparinpräparate diente. Präparate mit diesem Wirkstoff wurden in vielen Ländern verkauft, auch in der Schweiz. Hunderte von Personen, die ein solches Heparin injiziert erhielten, haben allergische Reaktionen entwickelt.3 Es kann zu einem Blutdruckabfall, Atemnot, Brechreiz und Schleimhautschwellungen kommen. In den USA sollen 81 Todesfälle auf das Konto des kontaminierten Heparins gehen.4
Die Ursache der allergischen Reaktionen ist die Verunreinigung des Heparins mit «übersulfatiertem» Chondroitinsulfat.4 Wie es dazu kommen konnte, dass diese Substanz dem Heparin zugemischt wurde, ist unklar. Klar ist hingegen, dass die Qualitätssicherung nicht geklappt hat. Grundsätzlich bleibt zweifelhaft, wie es den Firmen oder den Arzneimittelbehörden gelingen sollte, in China die vorgeschriebenen Standards in der Herstellung sicherzustellen. Die Herstellung in China dient zweifellos in erster Linie dazu, das grosse Geld der Pharmafirmen zu vermehren.

Publikationen gefälscht

Was man schon immer vermutet hatte, hat sich nun nach dem Debakel von Rofecoxib (Vioxx®) bestätigt. Im Zusammenhang mit den Vioxx-Prozessen musste die Herstellerfirma viele Dokumente den Gerichten übergeben. Daraus ergab sich die Gelegenheit, die Entstehung von Publikationen zu Rofecoxib zu untersuchen. Eine sehr sorgfältige Analyse von rund 250 relevanten Dokumenten wurde vorgenommen. Es zeigte sich, dass sehr viele Texte durch Angestellte von Merck (in Europa: MSD) vorbereitet und eventuell in Zusammenarbeit mit Firmen, die auf die Redaktion wissenschaftlicher Texte spezialisiert sind, verfasst wurden. Die veröffentlichte Schlussfassung der Texte nennt jedoch unter den Autoren erster, zweiter oder auch noch dritter Stelle die Namen von «opinion leaders», die eingeladen worden waren, ohne dass diese wirklich zum Text beigetragen hätten.5 Es bedarf keiner weiteren Erläuterung, weshalb es für die Firma so wesentlich war, bekannte, mit der Firma nicht sichtbar verbundene Persönlichkeiten auf den Studien und Übersichtsarbeiten zu nennen. Es besteht aber kein Zweifel, dass es sich hier um eine bewusste Irreführung handelt. Sicher geht es auch nicht um Einzelfälle; es gibt Hinweise, dass dieses Verfahren in der ganzen Pharmaindustrie verbreitet ist.

Negative Daten verheimlicht

Ebenfalls im Zusammenhang mit den Vioxx-Prozessen haben zwei Autoren die Todesfallstatistik in Studien bei Alzheimer-Demenz genauer unter die Lupe genommen. Schon im Jahr 2001 hatte die firmeninterne Analyse von zwei solchen Studien eine statistisch signifikant erhöhte Mortalität unter Rofecoxib gezeigt Gemäss der «intention-to-treat»-Analyse waren in der Rofecoxib-Gruppe 34 von 1069 Kranken, in der Placebo-Gruppe jedoch nur 12 von 1078 Kranken gestorben («Hazard Ratio» von 2,99, 95%-Vertrauensintervall 1,55-5,77). In den Daten, die der FDA übergeben wurden, sahen die Todesfall-Zahlen anders aus, da nur eine «on treatment»-Analyse übermittelt wurde, die keine eindeutige Häufung von Todesfällen unter Rofecoxib vermuten liess. Die Zahlen, die dann schliesslich publiziert wurden, waren nochmals etwas anders und nur vom Kommentar begleitet, das Medikament sei «gut verträglich». Die beiden Autoren kommen zum Schluss, zum Schutz von Studienteilnehmenden wäre eine zusätzliche, unabhängige Überwachung notwendig.6

Inoffizielle Indikationen propagiert

Im Zusammenhang mit einem anderen Gerichtsverfahren in den USA wurden Aufzeichnungen zu 116 Besuchen von Vertreterinnen und Vertreter der Pharmaindustrie in Arztpraxen untersucht. Zur Zeit der untersuchten Besuche (zwischen 1995 und 1999) war Gabapentin (Neurontin®) in den USA nur zur Behandlung von fokalen Epilepsien zugelassen. Bei 38% aller Besuche wurde aber die Anwendung von Gabapentin für andere Indikationen (Schmerzzustände, psychiatrische Erkrankungen) angepriesen, also für eine sogenannte «off-label»-Anwendung empfohlen. Wieviele der besuchten Ärztinnen und Ärzte nachher Gabapentin «off-label» verschrieben, ist nicht bekannt.7 Obwohl von ärztlicher Seite immer wieder bestritten wird, dass Pharmabesucherinnen und -besucher einen nennenswerten Einfluss auf die Verschreibungsgewohnheiten hätten, ist aber anzunehmen, dass dieser Einfluss recht erheblich ist.8 Die Herstellerfirma willigte schliesslich ein, aussergerichtlich eine Summe von 430 Mio. US-Dollar zu bezahlen. Man muss sich aber bewusst sein, dass es nur zu diesen Verhandlungen kommen konnte, weil ein Insider den Sachverhalt publik machte – in den meisten Fällen dürften die Beteiligten schweigen.

Fazit

Diese Beispiele zeigen, wie weit die Pharmaindustrie gekommen ist. Es ist offensichtlich, dass der Anstoss zu einer Besserung von Seiten der Industrie kommen müsste. Ob es dazu kommen wird, ist in Anbetracht der dominierenden Bedeutung, die heute in dieser Industrie dem Gewinn zukommt, eher fraglich. Von ärztlicher Seite her können wir nicht sehr viel unternehmen, um die unerfreuliche Situation zu verbessern. Sicher empfiehlt es sich, sämtliche Informationen, die uns von der Pharmaindustrie zukommen, mit grösster Zurückhaltung zu interpretieren. Bei allen Arbeiten, die uns die grossen Vorteile eines neuen Präparates demonstrieren sollen, ist Vorsicht angezeigt. Zu Recht kann man sich auch fragen, ob es sich lohnt, eine der mit Werbung «gespickten» Gratiszeitschriften überhaupt in die Hand zu nehmen.
Zum Schluss noch ein Wort zum Buch «An Imperfect Offering», aus dem ich am Anfang zitiert habe. Es ist das Werk des ehemaligen Präsidenten der «Médecins sans frontières». Orbinski schildert darin zahlreiche persönliche Erlebnisse, ein erschütternder Bericht über das unermessliche Leid, das Menschen anderen Menschen antun. Er beschreibt aber auch, wie schwierig es ist, die Hersteller von Arzneimitteln darauf zu verpflichten, die Bedürfnisse der Armen dieser Welt zu berücksichtigen.9

Etzel Gysling

Dank

Mit dieser Nummer ist der Jahrgang 29 (2007) abgeschlossen. Allen Abonnentinnen und Abonnenten, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und den vielen Fachleuten, die pharma-kritik-Texte verfasst oder durchgesehen haben, danke ich ganz herzlich.

Etzel Gysling

Standpunkte und Meinungen

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Der Niedergang der Pharmaindustrie, Editorial von Etzel Gysling (kein Passwort nötig) (29. Mai 2008)
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pharma-kritik, 29/No. 20
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