Die Industrie und die Ärzteschaft

Ceterum censeo (Editorial)

Experts do it, professors do it, universities do it, let's do it, let's fall in love with the industry!

Die Metapher des Lotterbetts, in dem sich die Industrie und die Ärzte befinden, stammt nicht von mir. Mehrere "Core Journals", die gute und wichtige Studien veröffentlichen, sind über die aktuelle Entwicklung dieser Beziehung beunruhigt.(1,2,3,4) Im "Lancet" wird von "increasingly uneasy bedfellows" gesprochen.(1) Was ist los? Ist die Alarmstimmung gerechtfertigt? Hat sich überhaupt etwas verändert in den letzten Jahren?

Bevor Antworten auf diese Fragen entworfen werden, lohnt sich ein Blick zurück. Machen wir uns doch nichts vor: die Bande zwischen den Arzneimittelherstellern und den Ärztinnen und Ärzten praktisch jeder Fachrichtung sind traditionell sehr eng. Die Bemühungen der Industrie, sich den Goodwill der forschenden und der verschreibenden Ärzte zu sichern, existieren seit vielen Jahrzehnten. Dafür gibt es durchaus einleuchtende und legitime Gründe: Jede einzelne Firma hat ein vitales Interesse, über eine möglichst gute Evidenz der Vorzüge ihrer Präparate zu verfügen und die Qualitäten ihrer Produkte im besten Licht erscheinen zu lassen. Anderseits ist offensichtlich, dass Medizinerinnen und Mediziner in hohem Masse darauf angewiesen sind, von Seiten der Industrie mit guten Arzneimitteln versorgt zu werden. Wenn es gelingt, kranken Menschen zu helfen, zu heilen oder gefährliche Komplikationen zu verhindern, so geht dieser Erfolg heute viel häufiger als früher auf wirksame und gut verträgliche Medikamente zurück. So ist ohne weiteres verständlich, weshalb die Ärzteschaft den Arzneimittelherstellern gegenüber Dankbarkeit empfindet.

Natürlich besteht auch kein Zweifel, dass die Industrie im Rahmen ihrer nicht ganz uneigennützigen Bemühungen um die Ärzteschaft substantielle Beiträge zur Fort- und Weiterbildung erbringt. Wir sind alle daran gewöhnt, mit Selbstverständlichkeit pharmazeutische Firmen als Sponsoren verschiedener ärztlicher Aktivitäten zu sehen. Oft wird uns kaum bewusst, dass der kleine Imbiss nach einem Vortrag finanziert werden muss oder dass die farbige, speziell für Mediziner hergestellte Reisezeitschrift das Glanzpapier mit Industriegeld kauft. So erhalten kleine und manchmal auch etwas grössere Geschenke die Freundschaft. Da es viele verschreibende (bzw. selbstdispensierende) Ärztinnen und Ärzte gibt, sind die entsprechenden Auslagen der Industrie recht beträchtlich. Ich glaube aber nicht, dass in der Schweiz das Ausmass der auf die Verschreibenden direkt ausgerichteten Werbung in den letzten Jahren wesentlich zugenommen hat. Verschreibende Ärztinnen und Ärzte werden zwar sicher kontinuierlich von der Industrie mit gezielter Information versorgt und damit auch beeinflusst. Solange jedoch diese Information klar als Firmenwerbung zu erkennen ist, dürfte dieser Beeinflussung kein allzu grosses Gewicht beikommen. Dies trifft besonders dann zu, wenn sich die Ärzte - wie in der Schweiz - regelmässig in der einen oder anderen Form "pharma-kritisch" fortbilden.

Neu erfolgt in den letzten Jahren mehr und mehr eine indirekte Beeinflussung der Verschreibungsgewohnheiten durch Werbung beim allgemeinen Publikum. Auch sogenannte wissenschaftliche Beiträge in der Presse und im Fernsehen sind häufig von Industrieinteressen geprägt. Diese Entwicklung, die der Meinung Vorschub leistet, bald sei jedes Übel mit Medikamenten zu heilen, beeinträchtigt schon heute die Therapiewahl nach Evidenzprinzipien. Ich bin wohl kaum der einzige Arzt, der schon wiederholt von seinen Patientinnen und Patienten auf eine am Fernsehen gepriesene Therapie für dies und jenes angesprochen wurde. Da es sich aber, wie erwähnt, um einen indirekten Einfluss handelt, möchte ich hier nicht weiter auf diese Problematik eingehen.

Was die führenden Fachzeitschriften heute in erster Linie beunruhigt, sind die Beziehungen zwischen der Industrie und den "Opinion Leaders", den forschenden und den lehrenden Fachleuten an den Hochschulen. Wenn es nämlich gelingt, diese Personen in Schlüsselstellungen günstig zu stimmen, so ist viel gewonnen. Selbstverständlich beteuern alle, die Forschungsgelder oder Honorare von der Industrie beziehen, sie liessen sich nicht beeinflussen. Es ist nichts Böses, das dies nicht stimmt. Vielmehr liegt es in der menschlichen Natur und ist ganz normal, wenn auch vielleicht vielen nicht bewusst, der gebenden Hand gegenüber positiv eingestellt zu sein. Auch geht es nicht darum, dass Studienresultate im eigentlichen Sinne verfälscht würden. Wer gelegentlich einen Artikel über eine klinische Studie genauer ansieht, weiss, dass sich der Eindruck, den man von den Resultaten gewinnt, sehr wohl beeinflussen lässt. Belanglose Unterschiede können so interpretiert werden, als ob sie klinisch bedeutsam wären. Unerwünschte Wirkungen werden zwar in der Regel erwähnt, jedoch nicht selten in der Diskussion übergangen. Ist es nicht verwunderlich, dass zum Beispiel sämtliche Studien, in denen ein neues Antirheumatikum gegen ein älteres getestet wird, für die neue Substanz ein ebenbürtiges oder gar besseres Resultat ergeben?

Da heute so viele neue Medikamente erforscht werden müssen, ergibt es sich ganz von selbst, dass ein sehr grosser Teil der Professoren, Chefärzte und der klinischen Forscherinnen und Forscher auch für die Industrie tätig sind. Das Ausmass der Industriebeteiligung lässt sich zum Beispiel an den Schwierigkeiten erkennen, die das "New England Journal of Medicine" hat, wenn es für ein Editorial unabhängige Fachleute sucht. Die frühere Chefredaktorin Marcia Angell schreibt dazu ganz klar: "we routinely encounter ... difficulties in finding editorialists in specialties that involve the heavy use of expensive drugs and devices".(3) Klinische Forscherinnen und Forscher beziehen nicht nur Gelder für Studien, sondern sind gemäss Angell auch Berater bei interessierten Firmen, fungieren als Sprecher für die Industrie, haben allenfalls Patentrechte an gewissen Produkten, veröffentlichen unter ihrem Namen Texte, die von einem Ghostwriter der Industrie verfasst wurden, propagieren Arzneimittel oder weitere Produkte an Kongressen, lassen sich beschenken und Reisen bezahlen und verfügen nicht selten auch über Aktien dieser Firmen. Ich kann nicht beurteilen, in welchem Umfang diese "amerikanischen Verhältnisse" auf die Schweiz oder allgemein auf Europa übertragen werden können. Dass die "Opinion Leaders" auch bei uns nicht immer unabhängig denken und handeln, dafür gibt es zahlreiche Hinweise.

Die Konsequenzen sind unübersehbar. So wird in der Schweiz an verschiedenen Fortbildungsveranstaltungen immer wieder auf den Nutzen einer postmenopausalen Östrogensubstitution im Sinne einer Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen aufmerksam gemacht. International wird aber dieser Nutzen der Östrogene sehr kontrovers beurteilt - eine Reihe neuerer Untersuchungen konnte nicht bestätigen, dass diese Hormone tatsächlich eine Herzschutzwirkung besitzen.(5,6) Klinische Forscherinnen und Forscher, die blutdrucksenkende Mittel austesten, suggerieren in ihren praxisorientierten Publikationen oft, neuere (teurere) Antihypertensiva seien den älteren Substanzen überlegen. Dabei gibt es mehrere Untersuchungen, die zeigen, dass Diuretika und Betablocker als Antihypertensiva bisher unübertroffen sind.(7,8)
Weitere Beispiele liessen sich im Bereich der Psychopharmaka und der Antibiotika finden. So fällt es schwer, daran zu glauben, dass unsere Expertinnen und Experten wirklich unabhängig sind. Da sie aber naturgemäss über sehr grosse Erfahrung auf ihrem Gebiet verfügen, erhalten ihre Aussagen ein entsprechendes Gewicht. Ich denke, dass die Industrie den "Opinion Leaders" sehr viel zu verdanken hat und über sie mehr erreicht als mit Werbung.

Warum hat sich die Situation verändert? Unsere Patientinnen und Patienten erwarten von uns, dass wir ihnen ständig besser helfen können. Tatsächlich ist die medizinische Forschung so aktiv wie noch nie. Gleichzeitig wird aber bei den öffentlichen Finanzen weltweit am Sparhahn gedreht. Was tut die Universität, was das Forscherteam, wenn es immer schwieriger wird, an öffentliche Gelder heranzukommen? Industriefonds sind hier eine naheliegende Lösung. Die Pharmaindustrie benötigt ja die Studien, da sie sonst keine Zulassungen für neue Substanzen mehr erhält. Daran ist grundsätzlich nichts Falsches zu sehen. Die Verlagerung von unabhängig finanzierter zu Industrie-finanzierter Forschung hat aber zwei Folgen, die nicht notwendigerweise im Interesse kranker Menschen sind:

Erstens wird der Forschungsbereich auf diejenigen Gebiete eingeschränkt, in denen sich die Industrie Profit verspricht. Innovative Ideen haben keinen Platz, wenn es darum geht, den xten Protonenpumpenhemmer oder den yten Angiotensin-Rezeptorantagonisten zu erproben. Sehr oft führt aber gerade eine Forschung, die nicht unmittelbar auf Erfolg oder Profit aus ist, langfristig zu echten Fortschritten.

Zweitens ist die Industrie-finanzierte Forschung praktisch ausschliesslich kurativ ausgerichtet. Für eine Forschung, deren Schwergewicht präventiver Natur ist, hat die Industrie in der Regel kein Interesse. Mit anderen Worten: Zwar wird die Tatsache bedauert, dass so viele rauchen. Für die Industrie liegt aber gerade darin die Chance, für viele ein "Heilmittel" anzubieten. Gelingt es tatsächlich, eine solche Substanz zu entwickeln, so wird diese als grosser Fortschritt gepriesen, auch wenn die Erfolgsraten recht bescheiden sind.(9)

Alle diese Überlegungen gelten natürlich nicht nur dann, wenn Medikamentenstudien an Hochschulen oder öffentlichen Spitälern durchgeführt werden. Im Gegenteil: spezielle private Forschungsinstitute ("contract-research organizations"), wie sie in den USA häufig und auch in Europa nicht mehr selten sind, dürften noch in höherem Masse darauf ausgerichtet sein, "positive" Resultate zuhanden der Zulassungsbehörden zu produzieren.(4)

Die hier geschilderten Probleme werden nicht "von selbst" verschwinden, sondern dürften sich in den kommenden Jahren eher noch akzentuieren. Was liesse sich tun, um die enge Verflechtung zu lockern? Am wichtigsten wäre wohl, endlich mehr Transparenz in die Angelegenheit zu bringen - eine Forderung, die ich schon so oft erhoben habe und die dennoch ungehört geblieben ist. Noch nie waren jedoch die Chancen so gut, mit vergleichsweise geringem Aufwand und geringen Kosten Daten zu Arzneimittelstudien allgemein zugänglich zu machen. Was bedeutet Transparenz? Zu jeder klinischen Arzneimittelstudie, die begonnen wird, sollten die wichtigsten Elemente - die Namen der untersuchten Medikamente, die Indikation und die Namen und Adressen der Forschenden und der beteiligten Firmen - veröffentlicht werden. Ideal wäre ein Abstract des Studienplans (doch dieser wird vielleicht als Firmengeheimnis betrachtet). Im weiteren Verlauf sollten das tatsächliche Studienende oder ein eventueller Abbruch immer ebenfalls publiziert werden. Heute haben alle Arzneimittelbehörden Websites - es wäre ein Leichtes, die genannten Informationen in tabellarischer Form zur Verfügung zu stellen. Ein weiterer wichtiger Schritt wäre, die Forschungsgelder in einem gemeinsamen Pool zu sammeln. Statt an Kliniken oder an Einzelpersonen gingen die Entschädigungen der Industrie in eine gemeinsame Kasse und die Gelder würden von einem mehrköpfigen Forschungsrat der jeweiligen Institution verwaltet. Dieser Fonds würde dazu dienen, die in den einzelnen Projekten entstehenden Kosten zu decken, könnte aber zudem für andere (nicht profitorientierte) Studien eingesetzt werden. Transparenz und Pool lösen nicht alle Industrie-bezogenen Probleme, eröffnen aber doch bisher verdeckte Möglichkeiten.

Etzel Gysling

Standpunkte und Meinungen

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Die Industrie und die Ärzteschaft (31. August 2000)
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pharma-kritik, 22/No. 02
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