Melatonin

Synopsis

Melatonin, das in der Schweiz nicht als Medikament registrierte Hormon der Zirbeldrüse, wird zur Behandlung von Schlafstörungen verwendet.

Chemie/Pharmakologie

In den Pinealozyten der Zirbeldrüse (Epiphyse) werden Indolamine (vorwiegend Melatonin) und Peptide (z.B. Vasopressin) synthetisiert. Aus Serotonin entsteht durch Einwirkung von zwei Enzymen N-acetyl-5-methoxytryptamin (=Melatonin). Licht-Information, die auf die Retina einwirkt, wird via den suprachiasmatischen Kern des Hypothalamus und das sympathische Nervensystem in die Zirbeldrüse weitergeleitet. Dunkelheit stimuliert die Synthese und die Freisetzung von Melatonin, Helligkeit bewirkt das Gegenteil. Kurz nachdem es dunkel geworden ist, steigt der Melatoninspiegel im Blut an und erreicht zwischen 2 und 4 Uhr morgens maximale Werte. Plasmaspitzenwerte sind bei Kleinkindern im Alter von 1 bis 3 Jahren am höchsten und nehmen dann im Laufe des Lebens ab. Der zirkadiane Rhythmus der Melatoninsekretion wird vom suprachiasmatischen Kern aufrechterhalten und vom Tag/Nachtwechsel der Umgebung gesteuert.(1)
Zwei verschiedene Melatonin-Rezeptoren sind beschrieben worden: ML1-Rezeptoren mit hoher Affinität sind wahrscheinlich an der Steuerung der Netzhautfunktion und verschiedener Tagesrhythmen beteiligt. Mindestens bei Tieren, deren Sexualität saisonal variiert, beeinflusst Melatonin die Fortpflanzung. Man vermutet ferner, dass Melatonin-Rezeptoren, die in peripheren Geweben lokalisiert sind, einen Einfluss auf Kreislauf und Körpertemperatur ausüben. Die Funktion der Rezeptoren mit niedriger Affinität (ML2) ist weniger klar definiert. Melatonin wirkt ausserdem intrazellulär auf verschiedene Enzyme ein. In hohen (pharmakologischen) Konzentrationen besitzt Melatonin auch eine antioxidative Wirkung. In Tierversuchen hat die Substanz zudem immunstimulierende Effekte gezeigt.(1)

Pharmakokinetik

In Form einer Tablette oder Kapsel zugeführtes Melatonin wird rasch resorbiert. Maximale Plasmaspiegel sind nach ein bis zwei Stunden erreicht. Die biologische Verfügbarkeit variiert sehr stark. Orale Dosen im Bereich von 1 bis 5 mg führen zu Plasmaspiegeln, die zwischen dem 10- und dem 100fachen der physiologischen nächtlichen Spiegel liegen.(2) Melatonin wird hauptsächlich in der Leber metabolisiert; die Metaboliten (Sulfate, Glukuronide) werden mit dem Urin ausgeschieden. Die Eliminationshalbwertszeit beträgt 35 bis 50 Minuten.

Auswirkungen auf den Schlaf

Nach Ansicht der meisten Fachleute hat Melatonin unzweifelhaft eine schlaffördernde Wirkung.(1, 3, 4)In erster Linie soll Melatonin bei Personen wirksam sein, deren Melatoninspiegel aus endogenen Gründen reduziert ist, d.h. insbesondere bei älteren Leuten. Personen, bei denen der Tag-Nacht-Rhythmus gestört ist, sollen ebenfalls gut darauf ansprechen. Dies betrifft Individuen nach langen Flugreisen («jet lag»), in Nachtschichten Arbeitende und Blinde.(4)
Es gibt jedoch bemerkenswert wenige kontrollierte Studien, welche die schlaffördernde Wirkung dokumentieren. In mehreren kleinen Schlaflabor-Studien wurden zwar nach Melatonin-Einzeldosen bei Freiwilligen eine Verkürzung der Schlaflatenz und eine Verlängerung der Schlafdauer festgestellt. So erhielten beispielsweise 15 gesunde Personen mittleren Alters in einer doppelblinden Crossover-Studie 0,3 oder 1,0 mg Melatonin. Im Vergleich mit Placebo fand sich unter der 1-mg-Dosis eine längere Schlafdauer und eine verbesserte «Schlaf-Effizienz».(5) In einer anderen Studie wurden 18 junge Erwachsene untersucht. Diese erhielten zu verschiedenen Tageszeiten (um 12, 17, 19 und 20 Uhr) 5 mg Melatonin oder Placebo. Besonders wenn die Melatonin-Dosis am Abend gegeben wurde, hatte die Substanz eine schlafanstossende Wirkung. Ausserdem wurde eine Verminderung der Körpertemperatur beobachtet.(6)
Verhältnismässig gut dokumentiert sind die Wirkungen bei Verschiebungen des Tag-Nacht-Rhythmus. In einer ersten Doppelblindstudie, die schon 1986 publiziert wurde, nahmen 17 Personen drei Tage vor und vier Tage nach einer Flugreise von der amerikanischen Westküste nach England täglich 5 mg Melatonin oder Placebo. Während die meisten Versuchspersonen unter Placebo über «jet lag» klagten, hatten diejenigen, die Melatonin nahmen, kaum Symptome.(7) Dies konnte in weiteren Studien bestätigt werden. In einer Doppelblindstudie bei Flugkabinenpersonal zeigte sich aber nur eine günstige Wirkung auf den «jet lag», wenn Melatonin erst nach der Ankunft am Reiseziel (5 mg/Tag während drei Tagen) und nicht schon vorher eingenommen wurde.(8)Bei Personen mit stark verspätetem Einschlafen («delayed sleep phase syndrome») konnte in einer doppelblinden Crossover-Studie bei 8 Patienten mit 5 mg Melatonin die Zeit bis zum Einschlafen signifikant um durchschnittlich 82 Minuten verkürzt werden.(9)
Melatonin kann auch bei Blinden mit gestörtem Tag-Nacht-Rhythmus zu einer Verbesserung des Schlafrhythmus führen. Studien bei Personen, die an eigentlichen Schlafstörungen (Insomnie) leiden, sind eine Rarität: Mit einem retardierten Melatonin-Präparat wurde eine doppelblinde Crossover-Studie bei 12 älteren Leuten mit Schlafstörungen durchgeführt. Vorgängig war bei allen eine reduzierte oder verzögerte Ausscheidung des wichtigsten Melatonin-Metaboliten im Urin nachgewiesen worden. Während je drei Wochen wurde jeden Abend 2 mg Melatonin oder Placebo gegeben. Die Schlafqualität wurde mittels eines Bewegungsmessers am Handgelenk überwacht. Unter Melatonin fand sich eine signifikant verbesserte Schlafeffizienz und eine Verminderung der wachen Perioden während der Nacht. Die Schlaflatenz wurde ebenfalls reduziert (nicht-signifikant), die gesamte Schlafdauer jedoch nicht beeinflusst.(10)
In einer weiteren Studie erhielten 26 ältere Personen mit Schlafstörungen während je einer Woche jeden Abend Placebo, nicht-retardiertes Melatonin (2 mg) oder retardiertes Melatonin (ebenfalls 2 mg). Im Anschluss an die letzte Studienwoche wurde noch während zwei Monaten allabendlich 1 mg retardiertes Melatonin gegeben. Das Einschlafen wurde vom nicht-retardierten Präparat ebenso günstig beeinflusst wie vom Retardpräparat. Dagegen konnte erst nach der längerfristigen Verabreichung des Retardpräparats auch eine Verbesserung der Schlafeffizienz festgestellt werden.(11)
Vergleichsstudien mit nach üblichen Prinzipien dokumentierten Schlafmitteln sind bisher offenbar nicht durchgeführt worden.
Melatonin wird aber - besonders in den USA - von mehreren Millionen Menschen ohne ärztliches Rezept eingenommen.(12) Dieses unkontrollierte Massenexperiment scheint grundsätzlich zu bestätigen, dass Melatonin eine schlaffördernde Wirkung zukommt.

Andere Melatoninwirkungen

Die sexuelle Reifung und Pubertät hängt möglicherweise mit der allmählichen Abnahme der Melatoninsekretion während der Kindheit zusammen.(1)Es sind mehrere Fälle von Knaben beschrieben, deren Epiphysenfunktion infolge eines Tumors ausgefallen war und die eine Pubertas praecox entwickelten. Anderseits wurden bei Personen mit hypothalamischem Hypogonadismus auffällig hohe Melatoninspiegel gefunden. Melatonin könnte auch einen direkten Einfluss auf die endokrine Funktion des Ovars ausüben.(1)
Obwohl im Tierversuch niedrige Melatoninspiegel mit einer beschleunigten Alterung in Verbindung gebracht wurden, existieren keine Daten, wonach Melatonin Altersprozesse beim Menschen aufhalten könnte.
Dagegen gibt es eine Reihe von Untersuchungen, die auf eine mögliche Schutzwirkung gegen Krebs hinweisen. Als Mechanismen werden vorgeschlagen: eine Modulation verschiedener Rezeptoren in Tumorzellen, eine Modulation der Immunantwort. Antioxidative Effekte lassen sich nur bei sehr hohen Konzentrationen beobachten. Bisher liegen jedoch nur kleine, wenig aussagekräftige Studien bei Krebskranken vor.

Unerwünschte Wirkungen

In Abhängigkeit von der Zeit der Einnahme kann Melatonin (besonders in hohen Dosen) zu «verfrühter» Schläfrigkeit führen. Die üblicherweise verwendeten Dosen (1 bis 5 mg) scheinen jedoch nicht nennenswerte Nachwirkungen am folgenden Tag («Hangover») zu verursachen. Andere allenfalls unerwünschte Effekte (Hypothermie, Konzentrationsschwäche) lassen sich mangels Studien bisher nicht adäquat beurteilen.
Daten zu Interaktionen von Melatonin sind nicht vorhanden.

Dosierung/Verabreichung/Kosten

In der Schweiz ist kein Melatonin-Präparat offiziell zugelassen. Einzelne Apotheken beschaffen Melatonin aus dem Ausland; es kann auch direkt in den USA (wo es nicht als Medikament gilt) bestellt werden. Dies bedeutet, dass die Qualität von Melatoninpräparaten nicht zuverlässig gewährleistet ist; auf alle Fälle ist darauf zu achten, dass die Substanz synthetischen (und nicht tierischen) Ursprung ist.
Es gibt bisher keine gut dokumentierten Dosisangaben. Um eine schlafanstossende Wirkung zu erreichen, genügt es in vielen Fällen, eine halbe bis eine Stunde vor dem Zubettgehen 1 bis 1,5 mg Melatonin einzunehmen. In den erwähnten Studien ist Melatonin in einer Dosis von 2 bis 5 mg gegeben worden. In Anbetracht der spärlichen Daten ist schwangeren und stillenden Frauen sowie Kindern von der Einnahme von Melatonin abzuraten.
In den USA wird Melatonin von vielen Firmen verkauft; 100 Tabletten oder Kapseln kosten unabhängig von der Dosis etwa 10 bis 15 Dollar. (Benzodiazepine und verwandte Schlafmittel kosten in der Schweiz 30 bis 65 Franken für 100 Tabletten.)

Kommentar

Dass Melatonin kein Wundermittel ist, dürfte heute allgemein bekannt sein. Eine andere Frage ist, ob es als gut wirksames, harmloses Schlafmittel eingesetzt werden kann. Leider ist unser Wissen zu dieser Frage trotz millionenfacher Anwendung erschreckend rudimentär. Melatonin wäre zweifellos schon längst ausführlich dokumentiert worden, wenn es sich um eine patentierbare Substanz handeln würde. Da dies nicht der Fall ist, zeigt die Industrie ein ausgeprägtes Desinteresse. Fachleute aus dem Gebiet der Schlafforschung äussern sich zurückhaltend-vorsichtig, ohne jedoch von einer Anwendung gänzlich abzuraten.

Literatur

  1. 1) Brzezinski A. N Engl J Med 1997; 336: 186-95
  2. 2) Dollins AB et al. Proc Natl Acad Sci USA 1994; 91: 1824-8
  3. 3) Arendt J. Br Med J 1996; 312: 1242-3
  4. 4) Chase JE, Gidal BE. Ann Pharmacother 1997; 31: 1218-26
  5. 5) Attenburrow ME et al. Psychopharmacology 1996; 126: 179-81
  6. 6) Tzischinsky O, Lavie P. Sleep 1994; 17: 638-45
  7. 7) Arendt J et al. Lancet 1986; 292: 1170
  8. 8) Petrie K et al. Biol Psychiatry 1993; 33: 526-30
  9. 9) Dahlitz M et al. Lancet 1991; 337: 1121-4
  10. 10) Garfinkel D et al. Lancet 1995; 346: 541-4
  11. 11) Haimov I, Lavie P. Drugs Aging 1995; 7: 75-8
  12. 12) Lamberg L. JAMA 1996; 276: 1011-4

Standpunkte und Meinungen

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Melatonin (30. Oktober 1997)
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