Influenza-Impfung 1996

Update

Noch 1984 war die Schlussfolgerung zulässig, aus Kostengründen und wegen des ständigen Antigenwechsels sei von «Routine-Impfungen» gegen Influenza abzuraten.(1) Obschon die heute erhältlichen Grippe-Impfstoffe gegenüber 1984 noch nicht wesentlich verbessert werden konnten, muss diese Schlussfolgerung revidiert werden. Mehrere kürzlich veröffentlichte Studien haben unser Wissen über Wirkung und Kostenfolgen der Influenza-Impfung verändert.

Impfstoffe

Die Tabelle 1 zeigt die 1996 für die Influenza-Impfung in der Schweiz erhältlichen Totvirusimpfstoffe. Bei Ganzvirusimpfstoffen wurden bei Kindern vermehrt systemische Reaktionen (z.B. febrile Impf-reaktionen) beobachtet, so dass für Kinder unter 12 Jahren Split- oder Subunit-Impfstoffe empfohlen werden. Auf der anderen Seite führen Ganzvirus-Impfstoffe, die neben den zwei für die Infektion wichtigen Oberflächen-antigenen auch andere Antigene (u.a. Virus-Core-Antigene) enthalten, zu einer besseren und längerdauernden T-Zellstimulation als Spaltvirus- oder Subunitimpfstoffe.(2) Da jedoch bisher noch keine Studie nachweisen konnte, dass dieser theoretische Vorteil der Ganzvirus-Impfstoffe auch in der Praxis mit einem besseren Impfschutz verbunden ist, setzen sich aus praktischen Gründen eher die Split- und Subunit-Impfstoffe durch, da diese in allen Altersgruppen verwendet werden können.


Wirkungsmechanismus

Die Impfung führt zu einer Stimulation von B- und T-Lymphozyten. Die B-Lymphozyten produzieren Stamm-spezifische IgG-Antikörper (neutralisierende Antikörper) gegen die drei im Impfstoff enthaltenen Virusstämme, während die zytotoxischen T-Lymphozyten und T-Helper-Zellen auch mit anderen Virusstämmen kreuzreagieren.(2) Der protektive Effekt der subtypenspezifischen Hämagglutinin-Antikörper beruht im wesentlichen auf der Begrenzung der Virusvermehrung im Epithel des Respirationstrakts. Da die zur Zeit verfügbare (intramuskuläre) Impfung zu keinem nennenswerten Anstieg von IgA-Antikörpern führt, schützt die Influenza-Impfung nicht gegen eine Infektion durch Tröpfchenübertragung, sondern in erster Linie gegen die Influenza-Komplikationen.
Die Schutzwirkung des Impfstoffes hängt davon ab, dass genügend Hämagglutinin-Antikörper gebildet werden. Dies ist nach bisherigen Erfahrungen bei etwa 80% der Geimpften der Fall.
Der Influenza-Impfschutz muss jedes Jahr erneuert werden. Ver-änderungen der zwei wichtigsten Virus-Oberflächenantigene Hämagglutinin (H) und Neuraminidase (N) führen zu antigenetisch ständig neuen Formen des Influenzavirus. Punktmutationen führen zu Änderungen («antigenic drift»), während eine grundlegende Veränderung des Virus-Subtyps (anderer Typ des Hämagglutinins und/oder der Neuraminidase, «antigenic shift») zu Pandemien führen kann.
Der trivalente Impfstoff ist etwa ab September für die neue Impfsaison erhältlich; seine Zusammensetzung basiert jeweils auf den aktuellen WHO-Prognosen für den zu erwartenden Virustyp.(3) In sieben der letzten acht Jahre traf diese Prognose gut oder ziemlich gut zu.(4)

Wirksamkeit im Alter

Bei älteren Personen ist das Risiko von Influenzakomplikationen höher als bei jüngeren Personen. Bereits normale Altersveränderungen führen nämlich zu einer schlechteren T-Zellfunktion, einer Reduktion der mukoziliären Abwehr und zu einer geringeren kardiopulmonalen Reservekapazität. Diese Faktoren, zusammen mit erkannten oder nicht-erkannten Erkrankungen, begünstigen das Auftreten von Pneumonien, die viraler und/oder bakterieller Ursache sein können. Im Zusammenhang mit der Influenza kann es zudem zu einer akuten oder chronischen kardialen Dekompensation kommen.
Eine Meta-Analyse von 20 Kohortenstudien über die Wirksamkeit der Grippeimpfung bei über 60jährigen Personen zeigte eine Reduktion von Pneumonien um durchschnittlich 53% und eine Reduktion der insgesamten Mortalität um 68% durch die Impfung. (5) Die Autoren berechneten, dass sehr umfangreiche nichtpublizierte negative Studien existieren müssten, um diese Resultate zu widerlegen. Diese Meta-Analyse bestätigte auch die Beobachtung, dass die Wirksamkeit bei guter Übereinstimmung zwischen Impfvirus und Epidemievirus besser, und bei schlechter Übereinstimmung weniger gut war.
Eine 1995 veröffentlichte Fall-Kontrollstudie in England zeigte gar eine Reduktion der Mortalität um 79% bei Personen, die nicht nur vor der aktuellen Impfsaison, sondern auch bereits im Vorjahr geimpft worden waren.(6)Eine Kohortenstudie an über 60’000 älteren Personen in den USA ergab, dass die Influenzaimpfung Hospitalisationen wegen Atemwegserkrankungen und wegen Herzinsuffizienz signifikant reduzierte und dadurch zu erheblichen Kosteneinsparungen führte.(7)
Bei geriatrischen Patientinnen und Patienten wie auch bei Bewohnern von Pflegeheimen ist aufgrund der Multimorbidität die physiologische Immunantwort auf die Influenzaimpfung schwächer als bei gesunden älteren Personen. Trotzdem ist die Impfung auch bei multimorbiden geriatrischen Patienten wirksam. Bei geimpften Pflegeheimpatienten fanden sich 58% weniger Pneumonien und 79% weniger Todesfälle.(8) Auch eine Studie im Tessin zeigte, dass durch konsequente Impfungen in allen Tessiner Pflegeheimen die Erkrankungshäufigkeit reduziert und deshalb Einsparungen erzielt werden könnten.(9)

Wirksamkeit bei jüngeren Personen

In der Tabelle 2 ist zusammengefasst, für welche Risikogruppen von Personen unter 65 Jahren die Influenza-Impfung empfohlen wird.(10) Die Impfung ist z.B. bei Diabetikern, Transplantierten oder Personen mit chronisch-obstruktiver Lungenerkrankung wegen der bei diesen Personen erhöhten Komplikationsrisiken indiziert. Der Nutzen einer Impfung von HIV-positiven Personen wird kontrovers beurteilt; weitere Studien sind notwendig. Ausserdem wird die Impfung für Medizinalpersonen oder Betreuer von Risikopatienten empfohlen, da damit das Risiko der Übertragung auf gefährdete Patienten reduziert werden kann. Für Pflegeheime wurde gezeigt, dass ein linearer Zusammenhang zwischen der Impfrate des Pflegepersonals und der Anzahl Grippefälle bei den betagten Bewohnern des Pflegeheims besteht. Nur durch eine Impfung von mindestens 80% der Patienten in Institutionen und des Personals kann eine «Herdimmunität» in einer Institution erwartet werden.
In einer randomisierten Studie in Minneapolis wurde bei 848 erwerbstätigen Personen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren gefunden, dass geimpfte Personen 25% weniger Erkrankungen der oberen Luftwege und deswegen 25% weniger Tage Arbeitsausfall und 44% weniger Arztkonsultationen aufwiesen.(11) Diese Studie zeigt, dass auch jüngere Personen ohne besondere Risikofaktoren von der Grippeimpfung profitieren können.

Unerwünschte Wirkungen

Gemäss randomisierten Studien sind einzig leichte lokale Nebenwirkungen wie Schmerz an der Injektionsstelle relativ häufig (bei 15 bis 30% der geimpften Personen).(12,13)
Allergische Reaktionen auf die Influenzavakzine sind sehr selten. Bei Personen mit bekannter Allergie auf Hühnereiweiss wird von einer Impfung abgeraten.
1976 traten nach der Influenzaimpfung in den USA gehäuft Fälle von Guillain-Barré-Syndrom auf. Der damals verwendete Impfstoff war jedoch «notfallmässig» hergestellt und zugelassen worden, da die Gefahr einer Pandemie mit dem Schweine-Influenzavirus bestand. In späteren Jahren konnte kein signifikanter Zusammenhang zwischen Influenzaimpfung und Guillain-Barré mehr beobachtet werden.
Ob die früher beschriebene Interaktion mit Theophyllin (vorübergehende Verlangsamung des hepatischen Metabolismus) klinisch bedeutsam ist, wird heute bezweifelt.

Lagerung

Influenzaimpfstoffe sind biologische Produkte und sollten bei Temperaturen zwischen 2º und 8ºC gelagert werden. Falls der Impfstoff partiell oder ganz einfriert, sollte er verworfen werden.

Dosierung und Verabreichung

Erwachsene und Jugendliche im Alter von mehr als 12 Jahren können mit einer einzelnen Dosis von 0,5 ml eines Impfstoffs geimpft werden. Die Impfung soll intramuskulär oder tief subkutan vorgenommen werden.
Für Kinder gelten die folgenden Empfehlungen: Generell sollen bei Kindern nur Spalt- oder Subunit-Impfstoffe verwendet werden. Zwischen 7 und 36 Monaten beträgt die Impfdosis 0,25 ml, später 0,5 ml dieser Impfstoffe. Bei der ersten Impfung von Kindern (mindestens bis zum Alter von 8 Jahren) muss im Abstand von vier Wochen nochmals dieselbe Dosis verabreicht werden.
Es sollte jedes Jahr zwischen September und November neu geimpft werden. Auch eine spätere Impfung (im Dezember) ist noch sinnvoll, da Grippeepidemien in der Schweiz bis im Frühjahr auftreten können. In der südlichen Hemisphäre und in tropischen Zonen treten Influenzaepidemien von April bis Oktober auf. Deshalb sollte bei Risikopersonen, die zu dieser Zeit in die südliche Hemisphäre reisen, vor der Reise eine Grippeimpfung durchgeführt werden. Malignom-Patienten können zwischen zwei Chemotherapiezyklen geimpft werden. Eine Schwangerschaft stellt keine Kontraindikation zur Grippeimpfung dar.

Erhöhung der Impfrate

Um eine hohe Impfrate zu erreichen, sind eine gute individuelle Beratung von Risikopersonen und begleitende organisatorische Massnahmen erforderlich. Bei der individuellen Beratung ist es wichtig, die Patienten darüber zu informieren, dass zwar trotz Impfung eine Grippe auftreten kann, dass die Impfung aber die potentiell schwerwiegenden Grippe-Komplikationen wirksam reduzieren kann. Auch dass die Impfung nicht vor anderen respiratorischen Infekten schützt, ist erwähnenswert. Wenn man sicherstellen will, dass möglichst viele Risikopersonen erfasst werden, so sind in der hausärztlichen Praxis verschiedene organisatorische Massnahmen angezeigt. Wie die Tabelle 3 zeigt, können z.B. schriftliche «Reminders» oder die Möglichkeit, ohne Sprechstunden-Termin zum Impfen zu kommen, die Impfrate deutlich erhöhen.(4) In Alters- und Pflegeheimen ist es Aufgabe der verantwortlichen Ärzte, eine generelle Impfpolitik festzulegen und durch gute Information zu versuchen, auch beim Betreuungspersonal eine hohe Impfrate zu erzielen.
Finanzielle Aspekte sollten in der Schweiz heute kein Hinderungsgrund mehr sein. Gemäss der Verordnung zum neuen Krankenversicherungsgesetz gehört die Grippeimpfung bei «Personen mit schwerer Grunder-krankung, bei welchen eine Grippe zu schweren Komplikationen führen kann und bei über 65jährigen Personen» zu den Pflichtleistungen der Krankenkassen.

Ausblick

Seit 1984 sind bei den erhältlichen Influenza-Impfstoffen keine Durchbrüche zu verzeichnen. Noch immer haben sie die Nachteile der relativ kurzdauernden Wirksamkeit, des möglichen Impfversagens bei nicht prognostiziertem «antigenic shift», der ungenügenden Immunstimulation bei einem Teil der geriatrischen Patienten und des fehlenden Schutzes gegen die Tröpfchenübertragung der Influenza. Wenn die Influenza-Überwachungsstelle der WHO einen «antigenic shift» feststellt, veranlasst sie die Herstellung eines monovalenten Impfstoffes, mit dem nachgeimpft werden kann. In verschiedenen Bereichen sind in den nächsten Jahren Verbesserungen zu erwarten. So haben klinische Studien mit neuen Impfstoff-Trägersubstanzen in Form von sogenannten «Virosomen» eine bessere Immunstimulation bei Pflegeheimpatienten gezeigt.(14) Es ist anzunehmen, dass in den nächsten Jahren Impfstoffe auch in Form von Nasensprays erhältlich werden, was zu einem verbesserten IgAvermittelten Impfschutz führen könnte. Fortschritte sind auch dank gentechnologischen Entwicklungen zu erwarten.
Da Kinder wesentlich zur Übertragung der Influenza beitragen, muss zukünftig auch erwogen werden, vermehrt gesunde Kinder zu impfen.

Schlussfolgerungen

Die heute verfügbaren Influenza-Impfstoffe sind zwar immer noch nicht perfekt, weisen aber eine ausgezeichnete Wirksamkeit zur Verhütung von Grippe-Komplikationen auf. Das aktuelle Hauptproblem ist in der Schweiz die ungenügende Anwendung des Impfstoffes. Eine epidemiologische Studie in Bern aus den Jahren 1993/94 zeigte beispielsweise, dass nur etwa 25% der älteren zu Hause lebenden Personen gegen Grippe geimpft worden waren.(15) Gemäss Industrieangaben wurden 1994 in der Schweiz lediglich etwa 540’000 Grippe-Impfdosen verkauft. Dies zeigt, dass 1994/95 in der Schweiz nur etwa ein Viertel aller Risikopersonen gegen Grippe geimpft waren. Es handelt sich um eine vergleichsweise kostengünstige Intervention, deren zusätzliches Präventions- Potential nun hoffentlich dank dem neuen Krankenversicherungsgesetz besser genutzt wird.(16)

Literatur

  1. 1) Gysling E. pharma-kritik 1984; 6: 65-6
  2. 2) McElhaney JE et al. J Gerontol 1994; 49: M37-43
  3. 3) World Health Organisation. Wkly Epidem Rec 1995; 70: 53-6
  4. 4) Fiebach N, Beckett W. Arch Intern Med 1994; 154: 2545-57
  5. 5) Gross PA et al. Ann Intern Med 1995; 123: 518-27
  6. 6) Ahmed AH et al. Lancet 1995; 346: 591-5
  7. 7) Nichol KL et al. N Engl J Med. 1994; 331: 778-84
  8. 8) Patriarca PA et al. JAMA 1985; 253: 1136-9
  9. 9) Barazzoni F. Cahiers Méd Soc 1993; 37: 287-96
  10. 10) Anon. Bull Bundesamt Gesundheitsw (BAG) 1995 (9.Oktober); 39
  11. 11) Nichol KL et al. N Engl J Med 1995; 333: 889-93
  12. 12) Govaert TME et al. Br Med J 1993; 307: 988-90
  13. 13) Margolis KL et al. JAMA 1990; 264: 1139-41
  14. 14) Glück R et al. Lancet 1994; 344: 160-3
  15. 15) Stuck AE et al. Méd Hyg 1995; 53: 2385-97
  16. 16) Chappuis S et al. Schweiz Med Wochenschr 1996; 126: 1135-42

Standpunkte und Meinungen

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