Orale Kontrazeptiva: Grundlagen

Übersicht

Die meisten oralen Kontrazeptiva wirken als Ovulationshemmer. Durch die tägliche Gabe einer Östrogen-Gestagen- Kombination wird eine Hemmung der Gonadotropin- Sekretion und damit der Ovulation erreicht. Die Sexualsteroide beeinflussen in erster Linie die Produktion, Speicherung und pulsatile Abgabe der Gonadotropine im Hypophysenvorderlappen, steuern aber auch die Sekretion von LH-RH im Hypothalamus. Die Östrogen- Gestagen-Kombination verdankt ihre kontrazeptive Wirkung wahrscheinlich noch anderen Mechanismen, z.B. einer Hemmung der Spermienmotilität infolge veränderter Zusammensetzung des Zervix-Schleims.(1) Je nach Zusammensetzung wirken orale Kontrazeptiva nicht nur verschieden auf ihre Zielorgane (Ovar, Uterus), sondern auch auf Leber und Kreislaufsystem. Im Vergleich mit früheren Präparaten zeichnen sich moderne Kontrazeptiva durch einen niedrigeren Hormongehalt aus. Niedrigdosierte Präparate sollen eine zuverlässige Kontrazeption sichern, jedoch weniger Nebenwirkungen verursachen.
Heute wird die Ovulationshemmung in erster Linie durch die potenten Gestagene bestimmt; die Gestagenwirkung wird aber durch die Östrogenzugabe moduliert.(2) So stimulieren die Östrogene u.a. die Synthese intrazellulärer Progesteronrezeptoren. Bis vor wenigen Jahren wurde angenommen, die Gestagenpotenz liesse sich auf Grund von Tierversuchen recht eindeutig festlegen. Untersuchungen z.B. der Menstruationsverzögerung haben aber in verschiedenen Tests für ein und dasselbe Gestagen so stark abweichende Resultate ergeben, dass sich aus diesen Untersuchungen keine Grundlage für die Wirkung beim Menschen ableiten lässt. Auch die Bedeutung, welche der «Gestagenpotenz» in der Diskussion über die Erhöhung des Brustkrebsrisikos durch Kontrazeptiva zugemessen wurde, ist nach heutiger Erkenntnis nicht zutreffend.(3) Die einzelnen Gestagene können auf Grund ihrer Partialwirkungen und ihrer Rezeptorbindungsaffinität teilweise charakterisiert werden; damit wird aber nicht die tatsächliche Stärke ihres biologischen Effektes erfasst.(4)

Typen oraler Kontrazeptiva

In den Tabellen 1 bis 4 sind die wichtigsten in der Schweiz erhältlichen oralen Kontrazeptiva in Gruppen geordnet. Diese Einteilung (nach Hammerstein)(5) soll die terminologische Konfusion reduzieren. Das klassische Kombinationspräparat (= Einphasenpille) besteht aus einem fixen Östrogen/Gestagen-Gemisch für 21 oder 22 Tage. Die Sequentialpille enthält bis zum 7. oder 11. Zyklustag nur ein Östrogen, das anschliessend mit einem Gestagen kombiniert wird. Den Zyklus noch besser imitieren sollen die Stufenpräparate, bei denen die Gestagendosis in zwei oder drei Stufen gesteigert wird. Der Östrogenanteil bleibt dabei fix oder wird vom 7. bis 12. Zyklustag leicht angehoben. Mit reinen Gestagenpräparaten («Minipillen») wird schon seit anfangs der 70er Jahre versucht, die östrogenbedingten Komplikationen zu vermeiden. Auch die heute mehr verwendeten sogenannten «Mikropillen» (mit einem Äthinylöstradiol-Gehalt von weniger als 50 mg) zielen in diese Richtung und sind somit Kontrazeptiva der ersten Wahl.

Allgemeines zur Kinetik synthetischer Sexualsteroide

Die von den oralen Kontrazeptiva erzeugten Östrogenund Gestagen-Plasmaspiegel zeichnen sich durch eine grosse interindividuelle Variabilität aus. So kann z.B. eine Frau nach der Einnahme eines Präparates eine zehnmal höhere Äthinylöstradiol- Plasmakonzentration aufweisen als eine andere Frau, welche das gleiche Präparat in der gleichen Dosis einnimmt.(4)
Die Wirkungsdauer der Östrogene wird durch den enterohepatischen Kreislauf mitbestimmt. Für die Gestagene spielt der enterohepatische Kreislauf dagegen kaum eine Rolle, da überwiegend inaktive Metaboliten rückresorbiert werden.
Die mit den Östrogenen zusammen verabreichten Gestagene bleiben länger im Körper, als dies aufgrund einfacher kinetischer Überlegungen zu erwarten wäre. Dies beruht auf der Tatsache, dass viele synthetische Gestagene (die Nortestosteronderivate) stark an das sexualhormonbindende Globulin (SHBG) gebunden werden.(6) Das SHBG hat eine ausgeprägte Spezifität für Sexualsteroide, aber im Vergleich mit Albuminen nur eine geringe Kapazität. Die Bindungswerte für Äthinylöstradiol sind vergleichsweise gering.
Während die Östrogene die SHBG-Synthese dosisabhängig stark steigern, senken viele Gestagene -- insbesondere Levonorgestrel -- die SHBG-Konzentration im Plasma. Die Kombinationspräparate führen zu einem Anstieg des SHBG; das Ausmass der Erhöhung ist einerseits vom Östrogengehalt des Präparates, anderseits von der Art des Gestagens abhängig. (Neuere Gestagene wie Desogestrel und Gestoden hemmen den östrogenbedingten SHBGAnstieg kaum.)
Von Bedeutung ist auch der Lipid-Wasser-Verteilungskoeffizient, welcher die Speicherung im Fettgewebe bestimmt; bei adipösen Frauen kann deshalb die Kontrazeption nach dem Absetzen der Pille noch länger andauern.

Die Östrogene

) Äthinylöstradiol wird rasch resorbiert; Plasmaspitzenkonzentrationen sind innerhalb von 1 bis 2 Stunden erreicht. Das Hormon wird in der Darmwand und bei der ersten Leberpassage («first pass») zu einem grossen Teil metabolisiert; nur etwa 40% einer Dosis sind biologisch verfügbar. Die terminale Halbwertszeit beträgt 6 bis 20 Stunden. Bei täglicher Einnahme ergibt sich durchschnittlich nach drei bis vier Tagen ein Konzentrationsgleichgewicht («steady state») im Plasma. Nur etwa 1% wird als unveränderte Substanz im Urin ausgeschieden; im Stuhl finden sich ungefähr 30%.(6)

Mestranol
ist der 3-Methyläther von Äthinylöstradiol und wird rasch zu diesem metabolisiert.

Die Gestagene

Die Gestagene können in die grössere, bedeutendere Gruppe der Nortestosteronderivate und diejenige der Progesteronabkömmlinge (Pregnane) eingeteilt werden.

Nortestosteronderivate

Die Nortestosteronderivate lassen sich in Estrane mit dem Hauptvertreter Norethisteron und die jüngere Norgestrelgruppe (Gonane) unterteilen.
Etwa 64% von Norethisteron sind biologisch verfügbar; die terminale Plasmahalbwertszeit einer Einzeldosis liegt zwischen 5 und 14 Stunden. Wird Norethisteron für 6 Tage täglich verabreicht, so ergibt sich eine Kumulation von Metaboliten, deren Halbwertszeit zwischen 42 und 82 Stunden liegt.(7) Lynestrenol und Äthynodioldiacetat werden quantitativ zu Norethisteron umgewandelt; die kinetischen Daten dieser beiden «Pro-Gestagene» entsprechen daher weitgehend denjenigen von Norethisteron.
Levonorgestrel (= d-Norgestrel) unterliegt im Gegensatz zu Norethisteron keinem «first pass»-Effekt; Levonorgestrel hat auch die längere Plasmahalbwertszeit (zwischen 10 und 24 Stunden).(6) Bisher konnten im Urin 31 Metaboliten identifiziert werden, hauptsächlich jedoch 16-b-hydroxy- norgestrel.
Das kürzlich eingeführte Gestagen Norgestimat wird via Levonorgestrel abgebaut. Zuvor entstehen die aktiven Metaboliten Norgestrel-3-oxim und Norgestrel-17-b- acetat. Für die Gestagenwirkung von Norgestimat sind wahrscheinlich Norgestrel-17-b-acetat und Levonorgestrel verantwortlich, da diese beiden Hormone eine hohe Bindungsaffinität zum Progesteronrezeptor aufweisen.
Desogestrel ist wie Norgestimat biologisch nahezu inaktiv, doch findet eine rasche und vollständige Umwandlung in das wirksame 3-Keto-Desogestrel statt. Fünf weitere Metaboliten mit unklaren hormonalen Wirkungen sind bekannt; zwei dieser Metaboliten binden sich an den Östrogenrezeptor, was für die andern Gonane nicht bekannt ist.(4)
Gestoden, welches sich von Levonorgestrel nur durch eine Doppelbindung unterscheidet, gilt zur Zeit als das stärkste zur Ovulationshemmung verwendete Gestagen. Seine Kinetik entspricht derjenigen der anderen Gonane.

Progesteronderivate

Zu den antiandrogen wirkenden Pregnanen zählen Cyproteronacetat und Chlormadinonacetat (letzteres in der Schweiz nur tiermedizinisch verwendet).
Cyproteronacetat ist zu 100% biologisch verfügbar. Wird das Kombinationspräparat 2 mg Cyproteronacetat + 35 mg Äthinylöstradiol verwendet, so beträgt die terminale Halbwertszeit von Cyproteronacetat etwa 4 Tage.

Klinische Studien

Placebokontrollierte Studien mit Kontrazeptiva fehlen aus begreiflichen Gründen fast vollständig. Vergleiche zwischen verschiedenen Präparaten sind aber möglich; leider sind auch mit den neueren Präparaten (Dreistufenpräparaten, «Mikropillen») kaum grössere kontrollierte Untersuchungen durchgeführt worden. Verträglichkeit und kontrazeptive Sicherheit lassen sich jedoch auch anhand der unkontrollierten Studien beurteilen.
Verträglichkeit: Verhältnismässig viele Frauen setzen die niedrigdosierten Kontrazeptiva nach einigen Monaten wieder ab; innerhalb der ersten sechs Monate sind es etwa 20%. Nur zwei Drittel von 367 Frauen, die ein Dreistufenpräparat mit Levonorgestrel erhielten, vollendeten 12 Zy- klen.(8)Von 1159 Frauen, die eine Desogestrel-Kombination einnahmen, waren es gar nur 59%.(9) 145 Frauen mit einer Sequentialpille (Äthinylöstradiol/Desogestrel, entsprechend dem in der Schweiz erhältlichen Ovidol®) wurden mit 118 Frauen verglichen, die ein niedrigdosiertes Kombinationspräparat (Äthinylöstradiol/Lynestrenol, entsprechend Ovostat micro®) einnahmen. In der Ovidol ®-Gruppe brachen 27 Frauen die Einnahme ab, in der anderen Gruppe waren es 45.(10)
Zum Abbruch in den ersten Zyklen führen oft Schmierblutungen («Spotting») oder Durchbruchblutungen, die nach Jahresablauf aber oft deutlich unter den Ausgangswert sinken. Das Ausbleiben der Entzugsblutung bewegt sich im Bereich von 1 bis 2%. Die häufigsten extragenitalen Nebenwirkungen sind: Spannung in den Brüsten, Nausea, Kopfschmerzen und Gewichtszunahme.
Kontrazeptive Sicherheit: Auch die Stufenpräparate weisen eine gute kontrazeptive Sicherheit auf. Bei 35’036 geprüften Zyklen an über 3000 Frauen traten unter einem Äthinylöstradiol- Levonorgestrel-Dreistufenpräparat nur 9 Schwangerschaften auf.(11) Mit einem anderen Dreistufenpräparat, einer Äthinylöstradiol-Norethisteron-Kombination, kam es bei 509 Frauen während 6 Monaten nur zu einer Schwangerschaft.(12)

Schlussfolgerungen

Es ist anzunehmen, dass die modernen, niedrigdosierten Kontrazeptiva eine ebenso gute kontrazeptive Sicherheit wie ältere Präparate gewährleisten. Sie verursachen häufiger kleine Blutungsanomalien, dürften aber dank der kleineren Hormondosis ein geringeres Gesamt-Risiko als die höherdosierten Präparate darstellen. Orale Kontrazeptiva mit einem Äthinylöstradiol-Gehalt von weniger als 50 mg sind heute die Präparate erster Wahl. Bei speziellen Indikationen können Kontrazeptiva mit 50 mg Äthinylöstradiol verschrieben werden. Höherdosierte Präparate sind weitgehend obsolet. Dass ein Präparat wie Anacyclin®101 (mit einem Mestranol- Gehalt von 100 mg) im Arzneimittelkompendium des Jahres 1988 als «niedrig dosiert» bezeichnet wird, entspricht einer Irreführung.
Das Risiko-Nutzen-Verhältnis der oralen Kontrazeptiva wird in einer kommenden pharma-kritik-Nummer näher diskutiert werden.

Kommentar

Die Tatsache, dass innerhalb der ersten sechs Monate etwa 20% der Frauen die Pille wieder absetzen, erklärt sich zum Teil auch dadurch, dass bei einem Teil der Frauen in dieser Zeit der Wunsch nach einem Kind auftritt. Weist man in der Praxis auf die Möglichkeit von Schmierblutungen und auf deren Harmlosigkeit hin, so gelangt man in der Regel problemlos in den vierten oder fünften Behandlungsmonat, wo dann diese Schmierblutungen viel seltener auftreten. Auch das Ausbleiben der Entzugsblutung («silent menstruation») ist harmlos und als lokales endometriales Problem von anderen Amenorrhoeformen klar abzugrenzen. Sowohl Schmierblutungen als auch die «silent menstruation» wären mit einer höheren Östrogendosis ohne weiteres zu umgehen; man muss sich aber fragen, ob eine Steigerung der Hormondosis aus diesen Gründen verantwortbar ist.
K.P. Lüscher

Literatur

  1. 1) M.H. Birkhäuser et al.: Gynäkologe 17: 175, 1984
  2. 2) J. Spona et al.: in J. Hammerstein (Herausgeber), 25 Jahre hormonale Kontrazeptiva aus Berlin, p.43, Excerpta Medica Amsterdam, 1986
  3. 3) J. Drife: Br. Med. J. 287: 1397, 1983
  4. 4) H. Kuhl: Wien. Med. Wschr. 137: 433, 1987
  5. 5) J. Hammerstein: Wien. Med. Wschr. 137: 441, 1987
  6. 6) M.L’E. Orme et al.: Clin. Pharmacokin. 8: 95, 1983
  7. 7) T.M. Mills et al.: Am. J. Obstet. Gynecol. 126: 987, 1976
  8. 8) M. Ulstein et al.: Acta Obstet. Gynecol. Scand. 63: 233, 1984
  9. 9) M.J. Weijers: Clin. Therap. 4: 359, 1982
  10. 10) M. Dik et al.: Geburtsh. Frauenheilk. 44: 808, 1984
  11. 11) Medical Letter 27: 48, 1985
  12. 12) H.U. Feldmann in: B. Runnebaum und T. Rabe (Herausgeber) Hormonale Kontrazeption, p. 81, Steinkopff Darmstadt, 1985

Standpunkte und Meinungen

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Orale Kontrazeptiva: Grundlagen (14. Januar 1988)
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