Evidenz und Ethik

ceterum censeo

Ein Prinzip, das in pharma-kritik schon immer hochgehalten wurde, gewinnt in neuester Zeit mehr Beachtung: Medizinische Interventionen sollten auf einem objektiven Nachweis ihres Nutzens beruhen. Unter der Bezeichnung «evidence based medicine» wird erfreulicherweise eine Medizin propagiert, die sich an kontrolliertrandomisierten Studien oder wenigstens an möglichst aussagekräftigen Untersuchungen (z.B. Fall-Kontroll-Studien, Kohortenstudien) orientiert.

Randomisierte Studien erlauben uns abzuschätzen, ob überhaupt und in welchem Ausmass eine Intervention vorteilhafte Konsequenzen für die Probandinnen und Probanden hat. Meistens lautet dabei die Frage, ob sich ein bestimmtes Morbiditäts- oder Mortalitätsrisiko reduzieren lässt. Wir sind daran gewöhnt, dass man uns beispielsweise von einer 20prozentigen Risikoreduktion berichtet. Diese Ziffer bezieht sich in der Regel auf die relative Reduktion des Risikos. Die Reduktion des absoluten Risikos präsentiert sich meistens sehr viel weniger eindrucksvoll.

Ein Beispiel soll dies kurz illustrieren: In einer rund fünf Jahre dauernden, randomisierten Studie gelang es, bei Personen mit koronarer Herzkrankheit das relative Mortalitätsrisiko mit einem Lipidsenker gegenüber Placebo-behandelten Patienten um ungefähr 30% zu reduzieren. Die absolute Risikoreduktion betrug dagegen annähernd 4%, d.h. in der Placebogruppe starben knapp 12%, in der aktiv behandelten Gruppe waren es wenig über 8%. Diese Tatsache lässt sich noch anders ausdrücken, indem man die Zahl der Personen angibt, die behandelt werden müssen, um das untersuchte Ereignis (in diesem Fall: den Tod) einer Person zu verhindern. Dieser Wert wird mit «Number Needed to Treat» (NNT) bezeichnet. Im vorliegenden Beispiel beträgt er 25: soviele Patienten mussten rund fünf Jahre lang behandelt werden, um einen Todesfall zu verhüten. Umgerechnet auf ein Jahr Behandlung beträgt die NNT 125.

Selbstverständlich ist jeder Nachweis einer Risikoreduktion beachtenswert. Im Vergleich mit der noch immer allzu häufigen Unsicherheit in bezug auf die Nützlichkeit medizinischer Massnahmen muss festgehalten werden, dass ein derart nachgewiesener Nutzen die untersuchte Intervention aus ethischer Sicht wesentlich aufwertet. Dennoch wäre es ein grober Irrtum zu glauben, eine mittels randomisierter Studie demonstrierte Risikoreduktion lasse sich unbesehen auf unsere Praxis übertragen.

Mit anderen Worten: auch die Evidenz muss interpretiert werden. An erster Stelle ist zu bedenken, dass das Studienresultat ja nur zu bestimmten Endpunkten eine gültige Aussage vermittelt. Oft lässt sich z.B. aus einer Studie nicht ableiten, ob und wie durch die geprüfte Intervention die Lebensqualität beeinflusst wird. Unerwünschte Wirkungen von medikamentösen oder anderen Massnahmen sind umso mehr von Bedeutung, je weniger relevant die Endpunkte der Studie sind.

Ein Beispiel: Wenn sich in einer randomisierten Studie nachweisen lässt, dass die Progression einer Krebserkrankung (z.B. das Auftreten von Metastasen) durch eine Chemotherapie vorteilhaft beeinflusst wird, so erscheint die Intervention zunächst als höchst wünschenswert. Wenn es sich aber zeigt, dass die gleiche Chemotherapie die Mortalität nicht beeinflusst (mit anderen Worten: das Leben im Durchschnitt nicht verlängert) und zudem die Lebensqualität der Behandelten stark beeinträchtigt, so erscheint die Evidenz der festgestellten Wirkung in einem ganz anderen Licht.

Um entscheiden zu können, ob sich ein Resultat auf jemanden anwenden lässt, der bei mir medizinische Hilfe sucht, stellt sich sodann die Frage, ob diese Person auch tatsächlich eine vergleichbare Risikosituation aufweist wie die in die Studie aufgenommenen Personen. Es könnte ja z.B. sein, dass mein Patient zusätzlich an einer Krankheit leidet, die in der Studie als Ausschlusskriterium galt. Wurden beispielsweise in die oben erwähnte Lipidsenker-Studie keine Diabetiker aufgenommen, so gelten ihre Schlussfolgerungen möglicherweise für Diabeteskranke nicht. Nur wenn es zutrifft, dass meine Patientin oder mein Patient gewissermassen ebenfalls in die Studie hätte aufgenommen werden können, ist es zulässig, für sie oder ihn eine relative Risikoreduktion durch die Intervention zu erwarten, die der in der Studie beobachteten entspricht.

Dies heisst jedoch nicht, dass für meine «passenden» Patienten auch die absolute Risikoreduktion ähnlich wäre wie in der Studie. Das Mortalitätsrisiko der koronaren Herzkrankheit variiert bekanntlich von Land zu Land erheblich. In der Schweiz ist es verhältnismässig niedrig. Wenn man vermuten darf, eine in der Schweiz untersuchte Placebogruppe hätte z.B. nur ein Mortalitätsrisiko von 8% (und nicht 12% wie in der oben erwähnten Studie), so beträgt die Interventions-bedingte Reduktion des absoluten Risikos nur etwa 2,5% (und nicht 4%). Daraus errechnet sich eine deutlich höhere Zahl von Personen, die behandelt werden müssen, um einen Todesfall zu verhindern (NNT), nämlich 40 (bzw. 200 pro Jahr).

Diese Überlegungen zeigen, dass die «nackte» Evidenz verhältnismässig wenig Entscheidungshilfe darstellt. Wir leben ja in einer Welt mit beschränkten Ressourcen und können uns -- als Gesellschaft -- nicht leisten, beliebig viele Leute gewissermassen überflüssigerweise zu behandeln. Wir müssen daher anerkennen, dass die «evidence based medicine» das schwierige ethische Dilemma therapeutischer Entscheide nicht zu lösen vermag, sondern bestenfalls genauer mit Ziffern umschreibt. Auch wenn im Durchschnitt nur eine einzige Person von 200 von einer Intervention profitiert, so könnte es ja ohne weiteres gerade eine oder einer der Kranken sein, die ich heute in meiner Sprechstunde sehe. Warum sollte dieses Individuum nicht die Chance bekommen, mittels einer nachweisbar nützlichen Intervention tödliche Komplikationen vermeiden zu können? Auf der anderen Seite ist völlig klar, dass infolge der Vergabe von «Gesundheitsfranken» an Kranke, die mit grosser Wahrscheinlichkeit keinen Nutzen aus einer Intervention ziehen, die Finanzen an anderer Stelle, bei anderen Kranken fehlen könnten.

Wir werden in den nächsten Jahren mit grosser Wahrscheinlichkeit viele Studienresultate sehen, die den Nutzen von teilweise sehr kostspieligen Interventionen zeigen. Die Fragen werden sich daher wieder und wieder stellen: Lässt es sich verantworten, einem kranken Menschen eine Behandlung zu verweigern, die ihm möglicherweise nützen könnte? Ist es anderseits zulässig, die eher knapper werdenden finanziellen Ressourcen in die eine oder die andere Richtung zu kanalisieren und dabei allenfalls die Interessen vieler anderer kranker Menschen zu vernachlässigen? Wir sind also mit einem ethischen Dilemma konfrontiert, das unsere auf das Individuum ausgerichtete Medizin zunehmend herausfordern wird. Im Einzelfall therapeutische Entscheide zu treffen, die für die Betroffenen nicht mit Sicherheit optimal sind, fällt sehr schwer. Diese Schwierigkeit wird durch eine zahlenmässig fassbare Evidenz genauer umschrieben, jedoch nicht behoben.

Meiner Ansicht nach überfordert der ethische Anspruch die Kapazitäten der medizinischen Berufe. Je länger je weniger darf es dem Ermessen einzelner überlassen sein, wie in diesen Fragen entschieden wird. Ich glaube deshalb, dass es einer gemeinsamen Anstrengung von Menschen verschiedenster Berufe und Alter bedarf, um gerechte Lösungen zum Konflikt zwischen individuellen und gesellschaftlichen Interessen zu finden.

Etzel Gysling

Standpunkte und Meinungen

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Evidenz und Ethik (25. März 1997)
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pharma-kritik, 18/No. 13/14
PK683
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