Neuere Antiepileptika

Epilepsien betreffen ungefähr 1% der Bevölkerung und gehören zu den häufigsten neurologischen Krankheiten. Nach dem klinischen Bild erfolgt die Klassifizierung in fokale und generalisierte Epilepsien. Bei fokalen Epilepsien sind primär nur Teile einer Hemisphäre betroffen; sie werden unterteilt in einfach- fokale (ohne Bewusstseinsstörung), komplex-fokale (mit Bewusstseinsstörung) und solche, aus denen sich sekundär generalisierte Anfälle entwickeln. Primär generalisierte Epilepsien gehen von beiden Hemisphären aus und zeigen bilaterale Symptome. Viele Menschen mit einer Epilepsie haben verschiedene Anfallstypen, und kein Anfallstyp ist spezifisch für eine Epilepsieform. Zur Diagnose einer Epilepsie werden mindestens zwei gesicherte, unprovozierte Anfälle im Abstand von mindestens 24 Stunden gefordert.

Knapp drei Viertel der Epilepsiekranken können mit einer Monotherapie behandelt werden. Die übrigen – meistens handelt es sich um Personen mit fokalen Anfällen – werden trotz lege artis durchgeführter Monotherapie nicht anfallsfrei (therapierefraktäre Epilepsie); bei ihnen sollte man nach Überprüfung der Compliance das Medikament wechseln oder zusätzliche Antiepileptika einsetzen («Add-on»-Therapie). In den letzten zehn Jahren sind mehrere neue Antiepileptika eingeführt worden, die vor allem bei fokalen Anfällen (ohne oder mit sekundärer Generalisierung) in Kombination mit herkömmlichen Antiepileptika untersucht worden sind. 30 bis 50% der therapierefraktären Fälle sprechen auf eine solche Kombination an (definiert als mindestens 50%ige Abnahme der Anfallsfrequenz), 5 bis 15% werden sogar anfallsfrei.

Bei vielen Antiepileptika ist der Wirkmechanismus nicht exakt geklärt. Folgende Faktoren können eine antiepileptische Wirkung vermitteln und sind bei den verschiedenen Mitteln in unterschiedlichem Mass beteiligt: (1) Verstärkung der Aktivität des hemmenden Neurotransmitters Gamma-Aminobuttersäure (GABA); (2) Abschwächung der Wirkung des exzitatorischen Neurotransmitters Glutamat; (3) Blockade von spannungsabhängigen Natrium- oder von Kalziumkanälen.

Unerwünschte Wirkungen, die bei allen Antiepileptika vorkommen, sind vor allem zentralnervöse Probleme wie Sedation, Schwindel, Ataxie, Kopfschmerzen, Sehstörungen (Doppelbilder u.a.) und Tremor sowie gastrointestinale Beschwerden wie Übelkeit, Erbrechen und Stuhlunregelmässigkeiten. Bei mehreren Mitteln sind auch Verwirrtheit, Irritabilität, Aggressionen, Depressionen und Psychosen beobachtet worden.

Fast alle neueren Antiepileptika sind auch bei Kindern geprüft worden. Zur Anwendung während der Schwangerschaft gibt es noch keine verlässlichen Daten. Zum Teil wurden im Tierversuch teratogene Effekte beobachtet. Es gelten daher dieselben Grundsätze wie bei herkömmlichen Antiepileptika. Beim Stillen ist mit den neueren Antiepileptika ebenfalls Vorsicht geboten, umso mehr als sie mehrheitlich keine starke Plasmaeiweissbindung haben und leicht in die Muttermilch gelangen.
Bei neueren Antiepiletika liegt keine eindeutige Beziehung zwischen Wirkung und Plasmakonzentrationen vor, so dass keine routinemässigen Plasmaspiegel-Messungen empfohlen werden.

Im Folgenden werden die neueren Antiepileptika in ihren spezifischen Eigenschaften einzeln beschrieben. In Tabelle 1 finden sich zusätzliche Angaben zur Pharmakokinetik. Tabelle 2 vermittelt Angaben zur Dosierung und zu den Preisen. Über die zu erwartenden pharmakokinetischen Interaktionen, wenn neuere Antiepileptika mit den wichtigsten herkömmlichen Mitteln kombiniert werden, informiert Tabelle 3. Vier Substanzen sind in dieser Zeitschrift schon einmal vorgestellt worden: Gabapentin (Neurontin®), Lamotrigin (Lamictal®) und Vigabatrin (Sabril®)(1) sowie Oxcarbazepin (Trileptal®).(2) Auf mögliche Indikationen neben der Epilepsiebehandlung – zum Beispiel Therapie von Schmerzen oder bipolaren Affektstörungen – wird nicht eingegangen.

Felbamat

Felbamat (Taloxa®) ist sowohl bei der Kombinations- als auch bei der Monotherapie von fokalen Epilepsien wirksamer als Placebo.(3) Aussagekräftige Vergleiche mit anderen Antiepileptika liegen nicht vor.
Felbamat wird zur einen Hälfte in der Leber metabolisiert, wobei zum Teil das Zytochrom-P450-System (CYP3A4 und CYP2E1) beteiligt ist; die andere Hälfte wird unverändert renal ausgeschieden. Felbamat ist ein Induktor von CYP3A4 sowie ein Hemmer von CYP2C19 und der ß-Oxidation.(4)
Felbamat kann Überempfindlichkeitsreaktionen hervorrufen; am gefürchtetsten sind aplastische Anämie und Leberversagen.(5) Deswegen wird die Indikationsstellung für Felbamat sehr streng gehandhabt. In der Schweiz ist das Mittel lediglich noch bei therapierefraktärem Lennox-Gastaut-Syndrom, einer seltenen Epilepsieform des Kindesalters, zugelassen.

Gabapentin

Gabapentin (Neurontin®) eignet sich zur Behandlung von fokalen Epilepsien. In einer Metaanalyse ergab sich für Gabapentin bei der Kombinationstherapie eine dosisabhängige Ansprechrate von 14,4 bis 28,5%; mit Placebo waren es 9,9%.6 Bei der Monotherapie zeigte sich Gabapentin als gleich wirksam wie Lamotrigin(7) und etwas weniger wirksam als Carbamazepin.(8)
Weil die Resorption im Dünndarm über einen sättigbaren Aminosäuretransporter stattfindet, nimmt die biologische Verfügbarkeit mit steigender Dosis ab. Gabapentin wird unverändert renal eliminiert und hat keinen Einfluss auf Leberenzyme. Ausser mit Antazida, welche die Resorption von Gabapentin leicht vermindern, sind keine Interaktionen bekannt. Als Nebenwirkungen sind Ödeme und Gewichtszunahme zu nennen; auch Hautausschläge sind beschrieben, jedoch nicht wie bei anderen Antiepileptika in Form lebensbedohlicher Reaktionen.(5)

Lamotrigin

Lamotrigin (Lamictal®) zeichnet sich durch ein breites antiepileptisches Spektrum aus. Die Wirkung von Lamotrigin bei der Kombinationstherapie von fokalen Epilepsien ist in mehreren placebokontrollierten Doppelblindstudien dokumentiert worden.(9) Auch die Monotherapie mit Lamotrigin wurde untersucht:
dabei zeigte sich das Mittel als ebenso wirksam wie Carbamazepin (Tegretol® u.a.).(10,11)
Lamotrigin wird in der Leber zu 90% an Glukuronsäure gekoppelt. Es ist ein schwacher Induktor der UDP-Glukuronosyltransferase, was eine leichte Induktion des eigenen Metabolismus bedeuten kann. Wichtig ist, dass der Abbau von Lamotrigin durch Valproinsäure (Convulex® u.a.) gehemmt wird und die Lamotrigin-Dosis in dieser Kombination halbiert werden sollte.(4)
Lamotrigin verursacht häufig einen makulo-papulösen oder erythematösen Hautausschlag. In seltenen Fällen kann sich eine schwere Hautreaktion wie Stevens-Johnson-Syndrom, toxische epidermale Nekrolyse oder Angioödem entwickeln. Auch andere Formen von Überempfindlichkeitsreaktionen, verbunden mit Fieber, Lymphknotenvergrösserung, Leberschäden oder Multiorganversagen, sind vorgekommen. Das Risiko ist dosisabhängig und deshalb erhöht bei zu rascher Dosissteigerung, bei einer Zweiertherapie von Lamotrigin mit Valproinsäure und bei Kindern. Lamotrigin bindet sich an melaninhaltiges Gewebe wie zum Beispiel
die Iris; inwieweit dies bei einer längerfristigen Behandlung Bedeutung hat, ist noch nicht klar.(5)

Levetiracetam

Levetiracetam (Keppra®) wird bislang zur Kombinationstherapie von fokalen Epilepsien verwendet. Die Ansprechrate liegt dabei 15 bis 30% höher als bei Placebo;(12) die Monotherapie ist noch kaum untersucht. Levetiracetam ist das einzige der neueren Antiepileptika, das mangels Daten bei Kindern nicht verwendet werden soll.
Levetiracetam wird zu zwei Dritteln unverändert renal ausgeschieden. Der Rest wird – in verschiedenen Geweben – durch Esterasen hydrolysiert. Auf das Zytochrom-P450-System oder andere Leberenzyme hat es keinen Einfluss, so dass keine pharmakokinetischen Interaktionen zu erwarten sind.Spezifische Nebenwirkungen, die beobachtet wurden, waren Verhaltensänderungen wie Irritabilität, Agitiertheit, Apathie, Angst und Depression sowie eine Abnahme der Erythrozyten-, Leukozyten- und Thrombozytenzahl.(13,14)

Oxcarbazepin

Oxcarbazepin (Trileptal®), ein Keto-Derivat von Carbamazepin, kann in der Kombinations- und in der Monotherapie bei fokalen und generalisierten Anfällen eingesetzt werden. Die Wirksamkeit ist ähnlich wie die von Carbamazepin, Phenytoin (Epanutin® u.a.) oder Valproinsäure.(15)
Oxcarbazepin wird in der Leber zum Monohydroxy-Derivat reduziert. Dieser aktive Metabolit, der grossenteils glukuronidiert wird, hat eine längere Halbwertszeit als Oxcarbazepin und ist für die antiepileptische Wirkung verantwortlich. Oxcarbazepin hemmt CYP2C19 und induziert schwach CYP3A4/5; insgesamt hat Oxcarbazepin aber einen geringeren Einfluss auf das Zytochrom-P450-System als Carbamazepin, und es tritt auch keine Autoinduktion auf.
Hinsichtlich Nebenwirkungsprofil lässt sich Oxcarbazepin mit Carbamazepin vergleichen. Einige unerwünschte Wirkungen treten unter Oxcarbazepin vermutlich seltener auf als bei Carbamazepin, andere wie zum Beispiel die Hyponatriämie dagegen häufiger. Wie Carbamazepin kann Oxcarbazepin zu Hautausschlägen und anderen Überempfindlichkeitsreaktionen führen, wobei in bis 30% der Fälle mit einer Kreuzreaktion zu rechnen ist.

Tiagabin

Tiagabin (Gabitril®) hemmt die Wiederaufnahme von GABA. Es wird bei der Kombinationstherapie von fokalen Epilepsien verwendet, wo man im Vergleich zu Placebo mit einer um 15 bis 20% höheren Ansprechrate rechnen kann.(16) Die Monotherapie ist noch kaum geprüft.
Tiagabin wird in der Leber via CYP3A4 abgebaut. Neben den gängigen Antiepileptika-Nebenwirkungen wurden unter Tiagabin Verwirrtheit, Depressionen und Bauchschmerzen beobachtet. Dazu sind mehrere Fälle von nicht-konvulsivem Status epilepticus bekannt. Die Verträglichkeit von Tiagabin wird verbessert, wenn es zusammen mit dem Essen eingenommen wird, so dass hohe Spitzenkonzentrationen vermieden werden.(17)

Topiramat

Topiramat (Topamax®) hat eine ähnliche chemische Struktur wie Fruktose. In der Kombinationstherapie bei fokalen Epilepsien ist die Ansprechrate mit Topiramat gemäss einer Metaanalyse signifikant höher als mit Placebo (OR = 3,3) (18); dasselbe zeigte sich in einem Vergleich zwischen Topiramat und Placebo bei primär generalisierten, tonisch-klonischen Anfällen.(19) Bei der Monotherapie scheint Topiramat ebenso wirksam zu sein wie Carbamazepin oder Valproinsäure.(20)
Topiramat wird zu ungefähr 20% in der Leber metabolisiert, wobei die beteiligten Enzyme noch nicht genau identifiziert sind; der Rest wird unverändert renal eliminiert. Wird Topiramat mit anderen, enzyminduzierenden Antiepileptika verabreicht, erhöht sich der metabolisierte Anteil auf 50%, was mit einer Verkürzung der Halbwertszeit verbunden ist. Topiramat induziert die ß-Oxidation und hemmt CYP2C19.(4) Es senkt die Plasmaspiegel von Ethinylestradiol, wobei der Mechanismus nicht bekannt ist.
Unter Topiramat wurden Gewichtsverlust, Parästhesien, Hyperthermie, Leberschäden und Nephrolithiasis beobachtet. Selten kann sich eine akute Myopie mit einem sekundären Engwinkelglaukom entwickeln; vor allem bei Kindern ist zudem vermindertes Schwitzen und Hyperthermie beobachtet worden. Die Nierensteinbildung hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass Topiramat das Enzym Karboanhydrase schwach hemmt. Die Kombination mit Karboanhydrasehemmern wie Acetazolamid (Diamox® u.a.) sollte deshalb vermieden werden.

Vigabatrin

Vigabatrin (Sabril®) hemmt die GABA-Transaminase, die den Abbau von GABA katalysiert. Bei der Kombinationstherapie lag die Ansprechrate zwischen 24 und 67%, mit einem signifikanten Unterschied gegenüber Placebo.(21) Bei der Monotherapie erwies sich Vigabatrin, in einer grossen Doppelblindstudie bei Personen mit fokaler Epilepsie geprüft, als weniger wirksam als Carbamazepin.(22)
Vigabatrin wird unverändert über die Nieren ausgeschieden und scheint nicht mit hepatischen Enzymen zu interferieren. Die biologische Halbwertszeit von Vigabatrin ist wesentlich länger als die pharmakokinetische, da die GABA-Transaminase irreversibel gehemmt wird und es mehrere Tage dauert, bis sie ihre volle Aktivität zurückgewonnen hat.
Die wichtigste Nebenwirkung von Vigabatrin sind Gesichtsfelddefekte, die oft asymptomatisch bleiben und etwa 30% der Behandelten betreffen; es ist nicht klar, inwieweit sie reversibel sind. Zur Therapie mit Vigabatrin gehören deshalb regelmässige augenärztliche Kontrollen. Wegen der ophthalmologischen Nebenwirkungen gilt Vigabatrin – abgesehen von gewissen kindlichen Epilepsieformen – lediglich als Mittel der ferneren Wahl.

Schlussfolgerungen

Die neueren Antiepileptika sind mehrheitlich im Rahmen einer «Add-on»-Therapie bei fokaler Epilepsie untersucht worden, womit ihr primäres Einsatzgebiet definiert ist. Zum Teil können sie auch als Monotherapie oder bei primär generalisierten Epilepsien verschrieben werden. Obwohl die neueren Antiepileptika gewisse Verträglichkeitsvorteile versprechen, stellen sie bei der Epilepsiebehandlung keinen Durchbruch dar. Nach wie vor können herkömmliche Antiepileptika wie Carbamazepin und Valproinsäure, mit denen man lange Erfahrungen besitzt und die vergleichsweise preisgünstig sind, als Medikamente der ersten Wahl eingesetzt werden. Wenn unter diesen Mitteln weiterhin Anfälle oder schwere Nebenwirkungen auftreten, ist an eines der neueren Antiepileptika zu denken. Primär ein neueres Antiepileptikum zu geben kann in einer individuellen Situation begründet sein, zum Beispiel wenn man spezifischen Nebenwirkungs- oder Interaktionsrisiken ausweichen will.
Zwar haben kaum direkte Vergleiche stattgefunden, doch dürfte die Wirksamkeit der neueren Antiepileptika im Allgemeinen ähnlich einzustufen sein. Trotzdem gibt es Unterschiede: Lamotrigin verursacht relativ wenig kognitive Störungen und Sedation; es ist deshalb eine etablierte Alternativsubstanz. Gabapentin und Levetiracetam haben den Vorteil, dass keine Interaktionen mit anderen Antiepileptika befürchtet werden müssen; beide werden auch als gut verträgliche Substanzen geschätzt. Bei Felbamat und Vigabatrin sind die möglichen Nebenwirkungen so gravierend, dass sie nur als Reservemittel dienen.

Standpunkte und Meinungen

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Neuere Antiepileptika (11. Juli 2003)
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pharma-kritik, 25/No. 6
PK76
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