25 Jahre pharma-kritik
- Autor(en): Etzel Gysling
- pharma-kritik-Jahrgang 25
, Nummer 20, PK92
Redaktionsschluss: 31. Januar 2004
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2003.92 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
ceterum censeo
Im Januar 1979 erschien die erste Ausgabe der pharma-kritik. Ende Januar 2004 schreibe ich diesen Text für die letzte Ausgabe des Jahrgangs 25. Nicht viele hielten es im Jahr 1979 für wahrscheinlich, dass dieses Blatt ohne Werbeeinnahmen ein Vierteljahrhundert überleben würde. Dass es doch möglich war, ist in erster Linie unseren Abonnentinnen und Abonnenten zu verdanken, die uns über viele, viele Jahre treu geblieben sind und nie aufgehört haben, das Redaktionsteam in seinen Bemühungen um eine unabhängige Arzneimittelinformation zu unterstützen. Dass es darüber hinaus möglich geworden ist, dank der Spenden für info-pharma auch die notwendige Basis zu schaffen, um individuelle, vertrauliche und kostenlose Informationen zur Pharmakotherapie zu vermitteln, ist besonders erfreulich. Auch der Ende 2003 lancierte Spendenaufruf hat der Stiftung info-pharma über 20'000 Franken gebracht, die vollumfänglich für Aufgaben der Arzneimittelinformation eingesetzt werden.
Eine werbefreie Zeitschrift zu veröffentlichen, bedeutet Freiheit und Verpflichtung. Die Freiheit, auf Werbeeinnahmen verzichten zu können, aber auch von Behörden, Standesorganisationen und anderen «Mächtigen» – wie z.B. den Krankenkassen – unabhängig zu sein, gibt uns die Möglichkeit, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Ich möchte behaupten, dass es uns in den vergangenen 25 Jahren gelungen ist, dies zu tun, ohne zu polemisieren, aber auch, ohne dass wir je substanziell von unserem Standpunkt zurücktreten mussten. Gleichzeitig ist offensichtlich, dass die primär selbst gewählte Aufgabe des «Pharma-Kritikers» eine beträchtliche Verpflichtung mit sich bringt. Dass wir uns bemühen, die verfügbaren Daten immer so sorgfältig wie möglich zu gewichten, ist selbstverständlich. Die grössere Verpflichtung liegt darin, wirklich auch immer den Interessen des kranken Menschen das Primat zu geben. Wir versuchen in unserem Team, dieser Aufgabe besondere Aufmerksamkeit zu schenken.
In einem kurzen «ceterum censeo» schrieb ich seinerzeit in der allerersten Nummer, nur die konsequente Beachtung wissenschaftlicher Prinzipien könnte zu einem internationalen Konsens in Therapiefragen führen. Ein Stück des Weges zu diesem Ziel ist die Medizin seither zweifellos gegangen, insbesondere dank der Bemühungen der «Cochrane Collaboration». Dabei ist mir sehr wohl bewusst, dass die Biostatistik allein nicht genügt – längst nicht jeder Unterschied, der als «statistisch signifikant » errechnet werden kann, ist auch klinisch relevant. Wir bemühen uns deshalb ganz bewusst, uns in jedem Fall zu fragen, was das «signifikante» Resultat für die Praxis bedeutet.
Je nach Perspektive sind 25 Jahre eine kurze oder eine sehr lange Zeit. In allen Bereichen der Medizin brachten die letzten 25 Jahre jedenfalls sehr zahlreiche Veränderungen, die wir heute mangels Distanz noch gar nicht recht beurteilen können. Ein paar Beispiele mögen dennoch den Wandel illustrieren: Infektionskrankheiten haben an Bedeutung wieder zugenommen – 1979 war z.B. eine Krankheit mit dem Namen AIDS noch unbekannt. Die diagnostischen Möglichkeiten haben sich dank der Weiterentwicklung bildgebender Verfahren enorm erweitert. Die Aussage, die konservative Behandlung gastroduodenaler Ulzera sei «bis heute unbefriedigend», wie sie in einer der ersten pharma-kritik-Nummern stand, würde wohl heute niemand mehr verteidigen wollen. Beim Blättern durch frühere Jahrgänge wundert man sich auch nicht so selten über «neue» Medikamente, die man einmal verschrieben, heute aber schon weitgehend wieder vergessen hat, z.B. Tienylsäure (Diflurex®), Pirenzepin (Gastrozepin®), Diflunisal (Unisal®) und viele andere. Neben Nieten hat es in diesen 25 Jahren natürlich auch Substanzen gegeben, deren Stellenwert ich anfänglich unterschätzt habe, wie z.B. Captopril (Lopirin® u.a.). Das Wichtigste, das ich aus dieser medizinhistorischen Kurzlektion ableiten kann, ist die Ermahnung, mit unserem aktuellen Wissen bescheiden zu bleiben.
Es war nicht besonders originell, 1979 eine «pharma-kritik» zu begründen, die sich zumindestens initial stark an englischsprachigen Vorbildern, nämlich dem amerikanischen «Medical Letter on Drugs and Therapeutics» und dem britischen «Drug and Therapeutics Bulletin» orientierte. Es gab auch bereits andere verwandte Publikationen, z.B. in Deutschland und auch in der französischen Schweiz. Das mögliche Echo eines solchen kritischen Blattes in der Deutschschweiz liess sich jedoch nur schwer voraussehen. Dass es dann in verhältnismässig wenigen Jahren gelungen ist, die «pharma-kritik» zu einem den meisten Praktikerinnen und Praktikern bekannten Begriff werden zu lassen, erfüllt mich nach wie vor mit grosser Freude. Natürlich freut mich auch zu spüren, dass ein Teil unserer Überlegungen von unseren Leserinnen und Lesern nicht nur gelesen, sondern auch in die Tat umgesetzt werden. Unabhängige Arzneimittelpublikationen sind allerdings im Vergleich mit dem finanzkräftigen Werbeapparat der Industrie sehr schwache Instrumente. So lebe ich auch nicht in der Illusion, unser Einfluss z.B. auf die Verschreibungsgewohnheiten wäre von entscheidender Bedeutung. Ich bin aber überzeugt, dass kritische Stimmen, sofern sie glaubwürdig sind, im Praxisalltag eine wichtige Hilfe darstellen. Dabei ist es sicher nicht belanglos, dass unsere Texte vergleichsweise kurz sind und deshalb eine rasche Orientierung ermöglichen.
In gewisser Weise ist uns auch gelungen, über die Schweiz hinaus zu wirken, seit das Internet als universell präsentes Medium zur Verfügung steht. Es ist uns zwar aus einleuchtenden finanziellen Gründen nicht möglich, aktuelle pharma-kritik- Jahrgänge «online» zu verschenken. Doch finden Suchende bei uns auch in früheren, kostenlos zugänglichen Jahrgängen eine Menge informativer Texte. Unsere Website bietet daneben, ebenfalls kostenlos, noch weitere nützliche Informationen wie z.B. die «Bad Drug News» oder die Übersicht zu Quellen der Arzneimittelinformation.
Unsere Internet-Ausgabe ist die nach aussen am besten sichtbare «elektronische Entwicklung», die unsere Zeitschrift in diesen 25 Jahren erlebt hat. Seit 1995 kann man die pharma-kritik im Internet lesen, länger schon als die meisten anderen medizinischen Fachzeitschriften. Intern hat der Computer unsere Arbeitsweise schon seit dem Anfang der 80er Jahre beeinflusst. In den allerersten Jahren übergaben wir unsere Texte zwar tatsächlich noch auf Papier der Druckerei. Heute dient uns der Computer praktisch in sämtlichen Etappen der Entstehung einer Nummer. Literaturrecherche und -beschaffung, Textgestaltung und -korrektur, Konsultation von Kolleginnen und Kollegen (zwecks Review), Layout, Versand in die Druckerei – all das geschieht am Computer.
Im Kalenderjahr 2003 haben wir nicht weniger als 25 Nummern redaktionell abgeschlossen (neun Nummern des Jahrgangs 24 und die Nummern 1 bis 16 des Jahrgang 25). An diesen Nummern waren nicht nur zahlreiche Autorinnen und Autoren beteiligt, sondern auch über 40 Kolleginnen und Kollegen, die mit ihrer Review viel zur Qualität des Blattes beigetragen haben. Der Beitrag der Reviewerinnen und Reviewer darf nicht unterschätzt werden. In sehr vielen Fällen sichert er uns den direkten Bezug zur aktuellen Praxis und Klinik. Es ist natürlich keineswegs so, dass die Reviewer-Meinungen immer unisono klängen. Nicht selten ergibt sich ein reger Briefwechsel, bis die Schlussfassung eines Textes gefunden ist. Ich bin nach wie vor sehr zufrieden mit unserem System einer «transparenten» Review – es kommt nur sehr selten vor, dass sich jemand aus der Review zurückzieht, wobei die Gründe für einen solchen Rückzug in die Anonymität ganz unterschiedlich sein können.
Wie wichtig es ist, dass sich unser Team jetzt seit ein paar Jahren konsolidiert hat, habe ich schon einmal hervorgehoben. Ich möchte es aber noch einmal wiederholen: die regelmässige, engagierte Mitarbeit jedes einzelnen Teammitglieds hat entscheidend dazu beigetragen, dass der grosse Publikationsrückstand weitgehend behoben werden konnte. Es ist dieses Team, das nicht nur die Zukunft des Blattes sicherstellt, mit demzusammen ich aber auch immer wieder neue Ideen diskutieren und manchmal auch realisieren kann. So sollte es dieses Jahr auch endlich möglich sein, die Neuauflage des Buches über 100 wichtige Medikamente drucken zu lassen. Sicher wird es aber auch in Zukunft manchmal verspätete pharma-kritik- Nummern geben. Wer sich darüber wundert, weshalb einzelne unserer Projekte nicht planmässig ablaufen, muss bedenken, dass wir alle in Teilzeit für pharma-kritik arbeiten. Neben Verpflichtungen in Praxis oder Klinik gibt es für uns immer wieder zusätzliche Aufgaben, die Zeit erfordern. So habe ich beispielsweise im Jahr 2003 an 18 verschiedenen Fortbildungsveranstaltungen aktiv teilgenommen. Die Arbeit für unsere zweite Zeitschrift (infomed-screen) stellt ebenfalls Anforderungen, die nicht zu vernachlässigen sind. Dass auch die Recherchen für individuell vermittelte Arzneimittel-Informationen Zeit in Anspruch nehmen, ist offensichtlich.
Wohin geht der Weg? Wir leben in einer Zeit des Umbruchs und es scheint mir gerade im Bereich der medizinischen Publikation unerlässlich, über wünschenswerte, allenfalls nötige Entwicklungen nachzudenken. Ein bescheidenes Projekt besteht darin, im laufenden Jahr vielleicht einmal mit einer Sondernummer (zusätzlich zum regulären Abonnement) einen Blick zurück zu tun, beispielsweise etwas ausführlicher aufzuzeigen, was die Flops und die echten Stars der letzten 25 Jahre Arzneimittel-Innovation waren.
Wenn das Buchprojekt abgeschlossen ist, sollten dann auch Valenzen frei werden, die der Modernisierung unserer Zeitschrift gewidmet würden. Gegenüber der pharma-kritik- Frühzeit hat sich im Bereich der Gestaltung medizinischer Zeitschriften vieles verändert – das sollte man schliesslich auch in unserer Publikation merken.
Obwohl wir «offiziell» keine Internetkurse mehr anbieten, ist übrigens unser Team weiterhin bereit, auf Anfrage zu umschriebenen Themen der Internet-gestützten Fortbildung Workshops zu gestalten.
Dieses Blatt wird – im Gegensatz zu infomed-screen – weiterhin ausschliesslich als auf Papier gedrucktes Produkt erhältlich sein. Elektronische Dokumente sind noch viel leichter zu kopieren als vier gedruckte Seiten. Da uns nicht entgeht, dass unser Blatt gelegentlich in grösserer Zahl kopiert wird, möchten wir bis auf weiteres darauf verzichten, ein elektronisches Abonnement anzubieten.
Ein wichtiges Anliegen, das allerdings eine längere Projektphase erfordert, wäre die Schaffung von qualitativ erstklassigen, unabhängigen Arzneimittel-Informationen für Laien. Die Herausgeber des britischen «Drug and Therapeutics Bulletin» haben begonnen, Merkblätter dieser Art zu produzieren, die mir gut gefallen. Wir sind im Gespräch mit anderen deutschsprachigen Blättern – vielleicht ist es möglich, dass sich auf diesem Gebiet eine gute Zusammenarbeit entwickelt.
Zum Schluss nochmals: herzlichen Dank allen, die uns geholfen haben, die ersten 25 Jahre pharma-kritik zu einem Erfolg werden zu lassen.
Etzel Gysling
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