Urtikaria

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Unter einer Urtikaria (Nesselsucht) versteht man die generalisierte Eruption von Quaddeln (rötliche bis weissliche erhabene, juckende Mückenstich-artige Schwellungen) am Integument. Von einer chronischen Urtikaria spricht man ab der 6. Woche. Die Krankheitsmechanismen umfassen eine lokalisierte Vasodilatation des Kapillarbetts, eine Aktivierung der Mastzellen mit Ausschüttung von Histamin ins Gewebe und demzufolge eine vermehrte Permeabilität der Kapillarwände mit Verschiebung von seröser Flüssigkeit in die Haut. Eine von sechs Personen erkrankt im Verlauf des Lebens an einer akuten Urtikaria. Die Prävalenz der chronischen Urtikaria beträgt 1 bis 5 pro 1000 Personen. Die Lebensqualität einer Person mit ungenügend behandelter Urtikaria kann relevant eingeschränkt sein. Insgesamt sollten in der Betreuung der Erkrankten drei Ziele erreicht werden: 1) Der Typ der Urtikaria ist klinisch zu definieren. 2) Die Ursache der Urtikaria soll wenn möglich eruiert werden. 3) Die Symptome sollen gelindert werden.

Aktuelle Übersichten zur Behandlung einer Urtikaria sind in den «Treatment Guidelines from The Medical Letter» und in den «Clinical Knowledge Summaries» des britischen NICE erschienen (1,2). Der folgende Text entspricht einer Zusammenfassung dieser Übersichten, ergänzt mit weiteren Daten und Hinweisen. 

Ursachen und klinischer Verlauf

Die meisten Fälle von akuter Urtikaria klingen nach 24-48 Stunden spontan ab. Bei wiederholten Anfällen oder chronischer Erkrankung soll versucht werden, auslösende Ursachen zu eruieren und wenn möglich zu eliminieren. Es gibt namentlich vier Ursachen für eine länger dauernde Urtikaria: a) allergische, b) auto-immune, c) pseudo-allergische und d) physikalische. Bei der allergischen Genese stehen Nahrungsmittelallergien (z.B. Eier, Meeresfrüchte) im Vordergrund, Inhalations- oder Kontaktallergien (z.B. Latex) kommen ebenfalls vor; Insektenstiche sind eher bei der akuten Urtikaria auslösend. Bei Säuglingen spielt auch die Kuhmilchallergie eine Rolle. Wenn der Verdacht auf eine Lebensmittelallergie besteht, sollten die Betroffenen allergologisch beurteilt werden. Sind Autoantikörper gegen Mastzellen vorhanden, so können auf diesem Weg deren histaminhaltige Granula freigesetzt werden. Bei den pseudo-allergischen Reaktionen sind Medikamente und Nahrungsmittel und eine entsprechende Veranlagung ursächlich. Bei der physikalischen Urtikaria sind es Reize wie Druck, Licht, Anstrengung, Temperaturschwankungen, die sich auch auf eine andere Form von Urtikaria aufpfropfen können. Die sogenannte «Urticaria factitia» kann durch den klinischen Nachweis eines Dermographismus ruber oder albus demaskiert werden.

Bei der chronischen spontanen Urtikaria ist häufig ein Auf und Ab der Beschwerden zu beobachten, wobei neben den oben erwähnten Faktoren auch Stress, Übermüdung, Alkohol, Koffein, virale Infektionen und weitere eine Rolle spielen können. Personen mit Histamin-Unverträglichkeit können über einen IgE-unabhängigen Weg (verminderte Aktivität des Histamin-abbauenden Enzyms Diaminoxidase) auf bestimmte Nahrungsmittel mit hohem Histamingehalt mit urtikariellen Symptomen reagieren. Beispiele solcher Nahrungsmittel sind Meeresfrüchte, Dauerwurstwaren, Hartkäse, Schokolade, Schwarztee, Tomaten, Zitrusfrüchte, Ananas, Rotwein (3). Zudem können Histamin-Liberatoren, wie sie in bestimmten Lebensmitteln –  z.B. in Erdbeeren – enthalten sind, «pseudoallergische» Anfälle auslösen. Gewisse nicht-steroidale Entzündungshemmer – z.B. Mefenaminsäure (Ponstan® u.a.), Diclofenac (Voltaren® u.a.), Indometacin (Indocid® u.a.), Acetylsalicylsäure (Aspirin® u.a.) –   fördern ebenfalls die Histaminfreisetzung. Auch Opiate können die Histaminfreisetzung steigern und somit Symptome auslösen; Pruritus und Urtikaria sind bei Heroinsüchtigen gehäuft (4). Der «Histamin-Import» kann durch eine Histamin-arme Diät reduziert werden. Die sogenannte «Kartoffel-Reis-Diät», bestehend ausschliesslich aus Kartoffeln, Reis, Wasser (sowie Salz und Zucker), sollte nicht nur bei echten Nahrungsmittelallergien, sondern auch beim Vorliegen einer Histamin-Unverträglichkeit zu einer Besserung führen (5), ist jedoch nicht genauer dokumentiert. Schliesslich stehen chronische Infekte (insbesondere mit Helicobacter pylori) im Verdacht, urtikarielle Syndrome auszulösen; in einem Drittel der Fälle besserten sich die Symptome nach einer erfolgreichen Eradikation (6).

Besondere Formen von Urtikaria

Das angioneurotische Ödem («Quincke-Ödem») kommt einerseits bei disponierten Personen mit C1q-Esterase-Hemmermangel vor (oft verbunden mit einer Erniedrigung des Komplementfaktors C4 im Serum) oder unter Therapie mit ACE-Hemmern, die den Bradykinin-Abbau hemmen. Schwellungen im Schlundbereich können mitunter die Atmung lebensgefährlich beeinträchtigen. Die Urtikaria-Vaskulitis gehört zur Gruppe der Blutgefässentzündungen und sollte vermutet werden, wenn die Läsionen schmerzhaft sind und deren typische Flüchtigkeit fehlt. Zu den hämatologischen Neoplasien gehört die Mastozytose, die ebenfalls urtikarielle Krisen auslösen kann. 

Medikamentöse Therapie

Sofern eine Ursache eruiert werden kann, soll diese wenn möglich kausal angegangen werden. Die symptomatische medikamentöse Therapie der Urtikaria besteht primär in der Gabe von nicht-sedierenden Antihistaminika. Dabei wird öfters eine höhere Dosis als bei der symptomatischen Therapie der Pollinose empfohlen. Eine Dosissteigerung bis auf das Vierfache der üblichen Dosis bringt allerdings auch eine erhöhte Frequenz unerwünschter Wirkungen mit sich; zudem ist ein zusätzlicher Nutzen hoher Dosen nur minimal dokumentiert (7). Bei der akuten Urtikaria kommt man oft mit einer zwei-, dreitägigen Behandlung durch Antihistaminika aus. Bei der chronischen Form sollte schon zu Beginn der Behandlung darauf hingewiesen werden, dass die Therapie mit Antihistaminika häufig sechs oder mehr Wochen dauern kann. In der Tabelle sind die gängigen Präparate zusammengestellt. Cetirizin ist ein Enantiomer-Gemisch, während Levocetirizin die reine L-Form darstellt; Desloratadin ist der wirksame Hauptmetabolit von Loratadin - ob sich durch die Verwendung dieser neueren Präparate klinische Vorteile ergeben, ist nicht überzeugend gesichert (8). Lässt sich die Urtikaria mit einem dieser Antihistaminika trotz Dosissteigerung nicht genügend beeinflussen, lohnt sich ein Präparatewechsel.

Ältere, stärker sedierende und hier nicht weiter diskutierte Antihistaminika sind: Chlorphenamin (Arbid N®), Dimetinden (Feniallerg®), Doxylamin (Sanalepsi®), Hydroxyzin (Atarax®), Ketotifen (Zaditen®). Insbesondere Hydroxyzin gilt als gut wirksam, ist aber stärker sedierend als sein Metabolit Cetirizin. Sedierende Antihistaminika können ggf. zur Therapie des nächtlichen Juckreizes eingesetzt werden.

In der Schwangerschaft fehlen für die meisten Antihistaminika verlässliche Sicherheitsdaten. Am besten dokumentiert ist Chlorphenamin (Arbid N®). In der Stillzeit sind Loratadin (z.B. Claritine®) und Cetirizin (z.B. Zyrtec®) zu bevorzugen, da sie kaum in die Muttermilch ausgeschieden werden.

 

Die lokale Applikation von Antihistaminika oder Kortikosteroiden sollte vermieden werden. Dagegen können allenfalls juckreizmildernde Crèmes oder Lotionen (mit Harnstoff, Polidocanol) verwendet werden.

Im Falle einer schweren Urtikaria wird der initiale Einsatz von oralen Kortikosteroiden während 3 bis höchstens 7 Tagen empfohlen.

Als mögliche Zusatztherapie bei chronischer Urtikaria ist Omalizumab (Xolair®, 300 mg s.c. alle 4 Wochen) zugelassen, sofern dies aus fachärztlicher Sicht indiziert ist. Mehrere kontrollierte Studien konnten eine gegenüber Placebo überlegene Wirkung auf den Juckreiz und die Hautläsionen zeigen (9). Omalizumab verursacht sehr häufig Kopfschmerzen und auch häufig Gelenkschmerzen und Infekte der oberen Luftwege. Es kann allergische Reaktionen (auch lebensbedrohliche Anaphylaxien) hervorrufen; unter dem Mittel wurden ferner gehäuft kardio- und zerebrovaskuläre Ereignisse beobachtet. Ungenügend dokumentiert ist zudem, wann die Dosis reduziert oder das Mittel ganz abgesetzt werden kann. Damit muss dieses mit Kosten von über 1000 Franken monatlich ungewöhnlich teure Medikament als zu riskant für den routinemässigen Einsatz bezeichnet werden.

Einige andere Behandlungsoptionen werden als «off label»-Anwendungen beschrieben:

Montelukast (z.B. Singulair®): in einer Studie zeigte dieses Mittel eine gewisse, aber limitierte Wirkung, wenn es zu den Antihistaminika hinzu gegeben worden war.

Cromoglycinsäure (Nalcrom®), offiziell zur Prävention von Nahrungsmittelallergien zugelassen, kann ebenfalls versucht werden.

Auch Ciclosporin (Sandimmun® u.a.) ist gegeben worden, muss jedoch bei einer grundsätzlich gutartigen Erkrankung ebenfalls als zu riskant bezeichnet werden.

Zusammengefasst und ergänzt von Markus Gnädinger

Standpunkte und Meinungen

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Urtikaria (29. März 2016)
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