Midrodin bei orthostatischer Hypotonie

Synopsis

Das sympathomimetisch wirkende Midodrin, das in der Schweiz unter dem Namen Gutron® seit langem zur Behandlung einer orthostatischen Hypotonie zur Verfügung steht, ist in Grossbritannien erst im letzten Jahr offiziell auf den Markt gekommen – was das «Drug and Therapeutics Bulletin» veranlasst hat, das Mittel ausführlicher vorzustellen  (1). Da Midodrin in unserer Zeitschrift bislang nur am Rande vorgekommen ist, in einer vor nahezu 30 Jahren erschienenen Nummer zur orthostatischen Hypotonie  (2), soll diese britische Übersicht im Folgenden zusammengefasst werden (in ergänzender, schweizadaptierter Form).

Eine orthostatische Hypotonie liegt vor, wenn nach dem Aufstehen der systolische Blutdruck mindestens 20 mm Hg oder der diastolische mindestens 10 mm Hg absinkt. Normalerweise versucht der Körper, den Blutdruck beim Aufstehen auf dem bisherigen Niveau zu halten. Daran sind komplexe Mechanismen beteiligt, die über das autonome Nervensystem gesteuert werden. Versagen diese Mechanismen, fällt der Blutdruck beim Aufstehen (vorübergehend) ab, was Schwindel, Benommenheit, Ohnmachtsanfälle, Müdigkeitsgefühl oder Stürze verursachen kann.

Mögliche Ursachen einer orthostatischen Hypotonie sind Nebenwirkungen von Medikamenten (Diuretika, Antidepressiva, Parkinsonmittel), Hypovolämie (ungenügendes Trinken, vermehrter Flüssigkeitsverlust), verstärkte Vasodilatation (Hitze, Alkoholwirkung) oder eine beeinträchtigte Herzfunktion; zu erwähnen sind auch Erkrankungen des autonomen Nervensystems, bei denen sich primäre Formen (Pandysautonomie [Bradbury-Eggleston-Syndrom], Multisystematrophie [Shy-Drager-Syndrom]) von sekundären (Diabetes mellitus, Parkinsonsyndrom) abgrenzen lassen. Aus dieser Aufzählung lässt sich ableiten, dass die orthostatische Hypotonie ein vor allem bei älteren Personen vorkommendes Problem ist.

Die Behandlung einer orthostatischen Hypotonie soll sich, wie in den Richtlinien der «European Academy of Neurology» (EAN) formuliert wird (3), an den individuellen Gegebenheiten orientieren. Die Grundziele sind, funktionelle Einschränkungen und Lebensqualität zu verbessern sowie Stürze mit Verletzungsfolgen zu verhüten. Nicht-medikamentöse Massnahmen, die den auslösenden Faktoren oder möglichen Folgen der orthostatischen Hypotonie entgegenwirken, sollen als erstes versucht werden. Als einer der wichtigsten Ratschläge ist den betroffenen Personen ans Herz zu legen, dass sie es vermeiden, abrupt oder schnell aufzustehen. Andere Empfehlungen beziehen sich darauf, dass genügend oder vermehrt Flüssigkeit und Salz eingenommen werden, dass eventuell Kompressionsstrümpfe oder Bauchbinden getragen werden, dass man im Bett mit angehobenem Kopfteil liegt, dass Hilfsmittel wie zum Beispiel ein Stock benützt werden, dass auf üppige Mahlzeiten und Alkohol verzichtet wird und dass ein geeignetes körperliches Training durchgeführt wird. Allerdings ist einzuräumen, dass der Nutzen solcher Massnahmen bis anhin nicht bewiesen ist.

Erst wenn nicht-medikamentöse Massnahmen scheitern, sollen Medikamente eingesetzt werden. Als geeignetes Mittel, um mit einer medikamentösen Behandlung zu beginnen, wird im EAN-Leitfaden Fludrocortison (Florinef®, 0,1 bis 0,2 mg/Tag) vorgeschlagen, ein Mineralokortikoid, mit dem das Plasmavolumen vergrössert wird. Es handelt sich freilich um eine sogenannte Grad-C-Empfehlung; das heisst, sie stützt sich nur auf eine geringe Zahl qualitativ wenig zureichender Studien. Die Hauptvorteile von Fludrocortison liegen darin, dass es lange wirkt (biologische Halbwertszeit von 18 bis 36 Stunden) und billig ist (5 bis 10 Franken pro Monat) (4). Typische Nebenwirkungen von Fludrocortison sind Hypokaliämie, Kopfschmerzen, Ödeme, Herzinsuffizienz und Erhöhung des Liegendblutdrucks. Wenn Fludrocortison nicht zum Ziel führt, ist ein Versuch mit Midodrin ein nächster Schritt (3). Dieser Reihenfolge kann man allerdings eine gewisse Willkürlichkeit nicht absprechen. So finden sich auch Quellen, die sie umkehren (Midodrin als erste und Fludrocortison als zweite Wahl) (5).

Keine guten Argumente lassen sich für die Verwendung von Etilefrin (Effortil®) anführen, das in der Schweiz ebenfalls zur Behandlung einer orthostatischen Hypotonie angeboten wird und wie Midodrin zu den Sympathomimetika gehört. Da Etilefrin auch beta-adrenerge Rezeptoren stimuliert, kann es die Herzfrequenz und -kontraktilität erhöhen – ein Effekt, der nicht als zweckmässig betrachtet wird (6), abgesehen davon, dass der Nutzen von Etilefrin klinisch nur schlecht dokumentiert ist.

Keine Datengrundlage gibt es für eine medikamentöse Behandlung bei Leuten (nicht selten handelt es sich um jüngere Personen), die über orthostatische Symptome klagen, bei denen indessen die diagnostischen Kriterien einer orthostatischen Hypotonie nicht erfüllt sind.

Midodrin

Midodrin ist ein «Prodrug», das durch eine hydrolytische Abspaltung von Glycin in die aktive Substanz Desglymidodrin übergeführt wird. Desglymidodrin wirkt als Agonist von alpha(1)-adrenergen Rezeptoren und ruft eine Konstriktion der peripheren arteriellen und venösen Gefässe hervor. Auch der Blasensphinkter-Tonus wird erhöht. Desglymidodrin wird – mit einer Halbwertszeit von 3 bis 4 Stunden – in der Leber über CYP2D6 und andere Zytochrome abgebaut.

Klinische Studien

Es sind zwei Metaanalysen veröffentlicht, in denen die Wirksamkeit von Midodrin bei orthostatischer Hypotonie im Zusammenhang mit primären oder sekundären Störungen des autonomen Nervensystems untersucht worden ist. Die erste Metaanalyse hatte sieben Studien bzw. Daten von 325 Patienten und Patientinnen zusammengefasst; sie ergab, dass Midodrin beim Wechsel vom Liegen zum Stehen den systolischen Blutdruck um 4,9 mm Hg und den mittleren arteriellen Druck um 1,7 mm Hg mehr erhöht als Placebo (beides nicht signifikant). Eine signifikante Zunahme des systolischen Stehendblutdrucks um 21,5 mm Hg zeigte sich aber, wenn man – im intraindividuellen Vergleich – bei den nur mit Midodrin behandelten Personen vor und nach der Medikamenteneinnahme mass (7). Indessen sei, wie an dieser Metaanalyse kritisiert wird, ein Vergleich zwischen Liegend- und Stehendblutdruck im Falle von Midodrin nicht korrekt, da das Mittel aufgrund seiner pharmakologischen Eigenschaften nicht spezifisch den Stehendblutdruck zu beeinflussen vermöge (8). Die zweite Metaanalyse bestand aus fünf Studien mit einem Gesamtkollektiv von 512 Personen und legte das Gewicht mehr auf die subjektive Einschätzung des Behandlungserfolgs. Es stellte sich heraus, dass mit Midodrin signifikant häufiger eine Besserung der Hypotoniesymptome erzielt wurde als in den Kontrollgruppen; die daraus abgeleitete «Odds Ratio» betrug 3,9 (95% CI 1,8–8,3), die «Number Needed to Treat» 3 (95% CI 2–9; ohne Zeitangabe). Die Zuverlässigkeit dieser Berechnungen wird allerdings als niedrig eingestuft, weil die zugrundeliegenden Studiendaten von mangelnder Qualität gewesen seien (9).

Als aussagekräftigste Einzelstudien, die in die beiden Metaanalysen eingeflossen sind, stechen zwei grössere placebokontrollierte Doppelblindstudien hervor, in denen Leute mit orthostatischer Hypotonie infolge einer autonomen Dysfunktion untersucht worden sind. In beiden Studien waren zusätzliche Massnahmen (Kompressionsstrümpfe, Einnahme von Fludrocortison) erlaubt. In der ersten Studie (n=87), die 4 Wochen dauerte, bewirkte die höchste der verwendeten Midodrin-Dosen (3-mal 10 mg/Tag) einen signifikanten Anstieg des Stehendblutdrucks um 22/15 mm Hg. Daneben wurde über eine Verbesserung von Symptomen (Schwindel, verschwommenes Sehen, fehlende Tatkraft, Depressivität) berichtet (10). Auch in der anderen Studie (n=162) erhöhte sich der Stehendblutdruck unter 3-wöchiger Midodrin-Einnahme (3-mal 10 mg/Tag) signifikant um 22/13 mm Hg; ebenso wurde das Benommenheitsgefühl, das man als Symptom systematisch erfasst hatte, durch Midodrin besser beeinflusst (11).

Mit jedweden medikamentösen Massnahmen, die bei der orthostatischen Hypotonie geprüft worden waren, haben sich zwei systematische Übersichten befasst. Sie ziehen das Fazit, dass es im Allgemeinen für keine medikamentöse Behandlung eine gute Datengrundlage gibt. Was vasoaktive Substanzen (inkl. Midodrin) betreffe, gebe es Hinweise, dass sie den Stehendblutdruck erhöhen, den durchs Aufstehen verursachten Abfall des Blutdrucks im Allgemeinen aber eher verschlechtern (12,13).

Unerwünschte Wirkungen

Bei über 10% der Behandelten verursacht Midodrin Gänsehaut, Jucken oder Parästhesien der Kopfhaut und Schwierigkeiten beim Wasserlösen (z.T. mit Harnretention). Auch Kopfschmerzen, Übelkeit, Dyspepsie, Stomatitis, Frösteln, Hautausschläge und Hitzewallungen mit Hautrötung können vorkommen. Potentiell gefährlich ist die dosisabhängige Erhöhung des (Liegend-)Blutdrucks, so dass die Behandlung von regelmässigen Blutdruckkontrollen begleitet sein sollte.

Bei schweren Formen einer autonomen Dysfunktion kann Midodrin eine orthostatische Hypotonie verschlimmern.

Interaktionen

Additive Effekte auf den Blutdruck sind zu erwarten, wenn Midodrin mit anderen blutdruckerhöhenden Mitteln verabreicht wird (Sympathomimetika in Schnupfenpräparaten, Kortikosteroide, Thyroxin, MAO-Hemmer). Alphablocker wie Doxazosin (Cardura® u.a.) oder Tamsulosin (Pradif® u.a.) können die Wirkung von Midodrin aufheben. Midodrin ist ein CYP2D6-Hemmer und kann die Clearance von Medikamenten vermindern, an deren Abbau dieses Zytochrom beteiligt ist.

Dosierung, Verabreichung, Kosten

In der Schweiz ist Midodrin (Gutron®) als Tabletten zu 2,5 mg und als Tropflösung zu 10 mg/ml erhältlich. Als übliche Anfangsdosis werden 2- bis 3-mal 2,5 mg/Tag empfohlen; je nach Wirkung kann diese Dosis auf 15 (bis 30) mg/Tag gesteigert werden. Um das Risiko eines zu hohen Liegendblutdrucks zu minimieren, sollte die Abenddosis spätestens 4 Stunden vor dem Zubettgehen eingenommen werden (auch indem man mit erhöhtem Kopfteil schläft, kann man dieser potentiellen Nebenwirkung entgegenwirken). Midodrin lässt sich sowohl zur Mono- wie zur Kombinationstherapie (z.B. mit Fludrocortison) verwenden.

Als Kontraindikationen für Midodrin gelten arterielle Hypertonie, schwere Herzkrankheit, manifeste arteriosklerotische Erkrankungen, Gefässspasmen, Niereninsuffizienz mit einer Kreatinin-Clearance unter 30 ml/min, ausgeprägte Prostatavergrösserung, durchgemachte Harnretention, proliferative diabetische Retinopathie, Phäochromozytom, Hyperthyreose und Engwinkelglaukom. Auch schwangeren Frauen sollte kein Midodrin verschrieben werden. Ob Midodrin in die Muttermilch übergeht, ist unklar.

Eine Behandlung mit Midodrin in einer Dosierung von 3-mal 2,5 mg/Tag kostet CHF 71.35 pro Monat.

Schlussfolgerungen

Der Nutzen von Midodrin bei orthostatischer Hypotonie ist nicht sehr gut belegt. Grundsätzlich fehlen Langzeitdaten, die zeigen, dass Midodrin funktionelle Einschränkungen, Lebensqualität und Sturzrisiko günstig beeinflussen würde. Die gleichen Vorbehalte treffen aber auch auf die anderen Medikamente zu, die bei orthostatischer Hypotonie verschrieben werden können. So lässt sich – unter Berücksichtigung der Kontraindikationen – ein Behandlungsversuch mit Midodrin rechtfertigen, wenn andere Massnahmen nicht genügend geholfen haben und die Lebensqualität der betroffenen Person erheblich beeinträchtigt ist. Als häufigste Nebenwirkungen von Midodrin ist mit Gänsehaut, Jucken der Kopfhaut und Schwierigkeiten beim Wasserlösen zu rechnen; besondere Beachtung verdient der mögliche Anstieg des Liegendblutdrucks.

Zusammengefasst und ergänzt von Urspeter Masche

 

Standpunkte und Meinungen

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Midrodin bei orthostatischer Hypotonie (12. Oktober 2016)
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