Galantamin
- Autor(en): Ariane de Luca
- pharma-kritik-Jahrgang 23
, Nummer 01, PK258
Redaktionsschluss: 14. Juni 2001
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2001.258 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Synopsis
Galantamin (Reminyl®) ist ein weiterer Cholinesterasehemmer, der zur symptomatischen Behandlung der Alzheimer-Demenz empfohlen wird.
Chemie/Pharmakologie
Galantamin ist ein tertiäres Alkaloid mit einer Codein-ähnlichen Struktur, das ursprünglich aus Zwiebeln der Familie der Amaryllidaceae extrahiert wurde. Es handelt sich um einen selektiven, kompetitiven und reversiblen Cholinesterasehemmer. Die Substanz ist früher in einzelnen Ländern z.B. zur Behandlung der Myasthenia gravis verwendet worden.(1) Es wird angenommen, dass zentral wirksame Cholinesterasehemmer bei Alzheimer-Demenz die cholinerge Neurotransmission fördern, indem sie den Abbau der Acetylcholin-Moleküle verlangsamen, die von noch intakten cholinergen Neuronen in den synaptischen Spalt freigesetzt werden. Galantamin beeinflusst die cholinerge Übertragung noch auf andere Weise: es bindet sich auch an cholinerge Rezeptoren vom nikotinischen Typ, was zu einer Verstärkung der Wirkung physiologischer Agonisten an diesen Rezeptoren führt.(lit)
Pharmakokinetik
Galantamin wird nach oraler Aufnahme rasch resorbiert; maximale Plasmaspiegel sind nach 1 bis 2 Stunden erreicht. Die biologische Verfügbarkeit beträgt knapp 90%, die Plasmahalbwertszeit ungefähr 10 Stunden. Galantamin wird zu etwa 75% durch hepatische Zytochrome metabolisiert; dabei sind CYP2D6 und CYP3A4 am wichtigsten.(2) Nach den bisher vorliegenden Daten hat Galantamin jedoch keine relevante hemmende oder induzierende Wirkung auf diese Zytochrome. Obwohl einzelne Metaboliten in vitro aktiv sind, soll diese Wirkung in vivo belanglos sein. Das Medikament und seine Metaboliten werden zu mehr als 90% mit dem Urin eliminiert. Eine leichte bis mittelschwere Beeinträchtigung der Leber- oder der Nierenfunktion und eine reduzierte CYP2D6-Aktivität ("slow metabolizers") haben einen mässigen Anstieg der Plasmaspiegel zur Folge, dem offenbar klinisch keine Bedeutung zukommt.(lit)
Klinische Studien
In den bisher bekannten 7 Doppelblindstudien mit Galantamin wurden knapp 4000 Kranke behandelt.(3) Es handelte sich um Personen, die nach den NINCDS-ADRDA-Kriterien eine wahrscheinliche Alzheimer-Demenz leichten bis mittelschweren Grades hatten (Abkürzungen vgl. Tabelle 1). Initial lagen die MMSE-Werte meistens zwischen 12 und 24. Die Beurteilung der Wirkung erfolgte in erster Linie anhand der zwei Skalen ADAS-cog und CIBIC-plus. Beide Skalen dienen vorwiegend dazu, kognitive Funktionen zu erfassen. Daneben wurden in einzelnen Studien auch andere Skalen verwendet, die u.a. Verhaltensstörungen und Alltagskompetenz erfassen.(3) Einzelheiten sind bisher zu den folgenden drei Studien veröffentlicht worden:
In einer fünfmonatigen amerikanischen Studie (GAL-USA-10) erhielten 978 Alzheimer-Kranke Placebo (n=286) oder Galantamin in einer Tagesdosis von 8 mg (n=140), 16 mg (n=279) oder 24 mg (n=273). Auch die letzteren beiden Gruppen erhielten initial 8 mg/Tag; die Dosis wurde dann über 4 bis 8 Wochen auf das geplante Niveau gesteigert. Der mittlere Anfangswert auf der ADAS-cog-Skala betrug 18 Punkte (eine maximale kognitive Beeinträchtigung entspräche 70 Punkten). Nach 5 Monaten lag der entsprechende Wert für Kranke, die mit 16 oder 32 mg täglich behandelt wurden, signifikant um durchschnittlich etwa 3 Punkte besser (tiefer) als für die Kranken der Placebogruppe. Die Zahl der Kranken, die gemäss der CIBIC-plus-Skala einen konstanten oder besseren Zustand hatten, war unter den beiden höheren Galantamindosen ebenfalls grösser (um 66%) als in den beiden Vergleichsgruppen (um 50%).(4) In einer sechsmonatigen europäisch-kanadischen Studie (GAL-INT-1) wurden Alzheimer-Kranke einer Behandlung mit Placebo (n=215), mit täglich 24 mg Galantamin (n=220) oder mit täglich 32 mg Galantamin (n=218) zugeteilt. Auch in dieser Studie wurde nach 6 Monaten mit Galantamin im Vergleich zum Placebo ein signifikanter Behandlungseffekt von etwa 3 Punkten auf der ADAS-cog-Skala erreicht. In bezug auf die Alltagskompetenz zeigte sich nach 6 Monaten nur die höhere Galantamindosis dem Placebo signifikant überlegen. Der Genotyp (Apolipoprotein-E4-Allel) hatte keinen Einfluss auf die Wirkung von Galantamin.
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In einer weiteren sechsmonatigen Doppelblindstudie (GAL-USA-1) erhielten 636 Alzheimer-Kranke in drei ungefähr gleich grossen Gruppen ebenfalls Placebo oder 24 bzw. 32 mg Galantamin täglich. Bei den aktiv Behandelten (24 oder 32 mg/Tag) war auf der ADAS-cog-Skala nach 3 Monaten die beste Wirkung - eine Verbesserung um 3,4 Punkte - festzustellen. Im Vergleich mit Placebo war die Galantamin-Wirkung auch nach 6 Monaten signifikant.
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Die Resultate dieser drei Studien werden im wesentlichen durch eine systematische Übersicht in der Cochrane Library bestätigt.
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Unerwünschte Wirkungen
Wie andere Cholinesterasehemmer verursacht Galantamin vorwiegend gastrointestinale Nebenwirkungen cholinergischer Natur. Brechreiz, Erbrechen und Appetitlosigkeit treten viel häufiger auf als unter Placebo und sind auch häufiger bei höheren Galantamindosen. So klagen um die 40% der mit einer Tagesdosis von 32 mg Behandelten über Brechreiz. Weitere Nebenwirkungen, die 10 oder mehr Prozent der Behandelten betreffen, sind Gewichtsverlust, Durchfall, Schwindel, Kopf- oder Bauchschmerzen. Auch Tremor wird beobachtet. Unerwünschte Wirkungen treten besonders initial während der Dosissteigerung auf. Ein Viertel bis ein Drittel aller Behandelten, die in den Studien 32 mg/Tag erhielten, brachen die Behandlung ab.(lit)
Interaktionen
Dosierung, Verabreichung, Kosten
Galantamin (Reminyl®) ist als Tabletten zu 4, 8 und 12 mg erhältlich und in der Schweiz kassenzulässig. Das Medikament soll zweimal täglich (morgens und abends) gegeben werden. Die Herstellerfirma empfiehlt, mit 2mal 4 mg täglich zu beginnen und frühestens nach 1 Woche auf 2mal 8 mg täglich zu steigern. Tagesdosen über 16 mg bringen kaum zusätzlichen Nutzen und verursachen mehr unerwünschte Wirkungen.(3) Dennoch ist nach offiziellen Angaben nach weiteren 4 Wochen eine Steigerung auf höchstens 2mal 12 mg täglich zulässig. Bei Personen mit einer mittelschweren Leberinsuffizienz empfiehlt es sich, mit einer reduzierten Dosis (4 mg/Tag) zu beginnen und die Dosis von 16 mg/Tag nicht zu überschreiten. Dieselbe Vorsichtsregel gilt bei Kranken, die CYP2D6- oder CYP3A4-Hemmer einnehmen. Bei einer fortgeschrittenen Leber- oder Niereninsuffizienz ist Galantamin kontraindiziert.
Eine Behandlung mit Galantamin (Tagesdosis 16 mg) kostet 208 Franken monatlich. Andere Cholinesterasehemmer (Donepezil, Rivastigmin) verursachen ähnlich hohe Kosten.
Kommentar
Im Vergleich mit Placebo lässt sich mit Galantamin über den Zeitraum von 6 Monaten eine im Durchschnitt statistisch signifikante Besserung der kognitiven Funktionen und der Alltagskompetenz erreichen. Obwohl es weder mit Donepezil noch mit Rivastigmin direkt verglichen worden ist, kann angenommen werden, dass es bei Alzheimer-Kranken eine ähnliche Wirksamkeit hat wie diese beiden anderen Cholinesterasehemmer. Auch bezüglich Spektrum und Ausmass der unerwünschten Wirkungen lassen sich bisher keine nennenswerten Unterschiede zwischen den drei Medikamenten erkennen. Der praktische Nutzen der Cholinesterasehemmer ist verhältnismässig bescheiden und hält kaum länger als 6 Monate an (die wenigen Studien, die länger dauerten, waren nicht doppelblind). Einzelne Alzheimer-Kranke sprechen überhaupt nicht an oder vertragen die Cholinesterasehemmer nicht. Zu beachten ist auch, dass ein Nutzen nur für Personen mit einer leichten bis mittelschweren kognitiven Beeinträchtigung nachgewiesen ist. In Anbetracht der geringen therapeutischen Möglichkeiten kann jedoch im Einzelfall die Verabreichung eines Cholinesterasehemmers versucht werden. Gegen die Verordnung von Galantamin spricht, dass für dieses Medikament in Laienpublikationen mit stark übertriebenen Argumenten geworben wird.
Literatur
- 1) Grutzendler J, Morris JC. Drugs 2001; 61: 41-52
- 2) Scott LJ, Goa KL. Drugs 2000; 60: 1095-1122
- 3) Olin J, Schneider L. Cochrane Database Syst Rev 2001; 1: CD001747
- 4) Tariot PN et al. Neurology 2000; 54: 2269-76
- 5) Wilcock GK et al. Br Med J 2000; 321: 1445-9
- 6) Raskind MA et al. Neurology 2000; 54: 2261-8
Standpunkte und Meinungen
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