Schmerzmittel-Probleme (Editorial, frei zugänglich)
- Autor(en): Etzel Gysling
- pharma-kritik-Jahrgang 32
, Nummer 5, PK760
Redaktionsschluss: 20. Dezember 2010
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2010.760
Wenn man sich überlegt, wie häufig in Praxis und Spital Schmerzen behandelt werden müssen, so würde man meinen, wir wären auf dem Gebiet der Schmerzbehandlung besonders kompetent. Leider ist dies ganz offensichtlich nicht der Fall. Im Gegenteil: früher wie heute werden Schmerzen sehr häufig auf irrationale Weise behandelt.
Dass problematische Schmerzmittel-Kombinationen, die ich vor vielen Jahren schon als obsolet bezeichnet habe,(1) verschwunden sind, ist zwar erfreulich. Sieht man sich jedoch heute um, so wird rasch klar, dass von einer Evidenz-basierten Schmerztherapie keine Rede sein kann. Dies betrifft sowohl die Praxis als auch – vielleicht noch in höherem Ausmass – die Spitäler. Ich möchte deshalb die wichtigsten Probleme, die ich teilweise schon bei anderen Gelegenheiten erwähnt habe, hier nochmals genauer aufzeigen.
Paracetamol
Paracetamol wird heute viel zu häufig in der maximalen Tagesdosis von 4-mal 1 g verschrieben. Tatsächlich gibt es nur verschwindend wenige Studien, in denen eine Überlegenheit von 1-g-Tabletten gegenüber den 500-mg-Tabletten nachgewiesen worden wäre. Gemäss einer Cochrane-Analyse, in der Paracetamol-Einzeldosen verglichen wurden, beträgt die «Number Needed to Treat», um postoperativ während 4 bis 6 Stunden eine zufriedenstellende Analgesie zu erreichen, sowohl für die 500-mg-Dosis als auch für die 1-g-Dosis etwa 4.(2) Unter einer Tagesdosis von 4 g Paracetamol haben bereits etwa ein Drittel der Behandelten erhöhte Transaminasen-Werte;(3) unter hohen Paracetamol-Dosen sind aber nicht nur hepatische, sondern auch gastro-intestinale Probleme möglich.(4)
Es gibt somit gute Gründe, warum man sich in der Regel auf die 500-mg-Dosis beschränken sollte – eine Dosis, die sich nach Bedarf vier- bis höchstens sechsmal täglich wiederholen lässt.
Acetylsalicylsäure
Ob es richtig ist, Acetylsalicylsäure quasi nur noch als Plättchenhemmer und nicht mehr als Analgetikum zu verschreiben, sollte kritisch hinterfragt werden. Wir kennen die möglichen Nachteile dieser Substanz recht gut; gastro-intestinale Komplikationen und Blutungen stehen dabei im Vordergrund. Anderseits handelt es sich doch um ein Medikament, das in fast unzähligen Studien als Schmerzmittel-Vergleichsstandard verwendet wurde. So ist die Acetylsalicylsäure z.B. bei Migräneanfällen durchschnittlich ebenso wirksam wie Sumatriptan (Imigran® u.a.).(5)
Während eine längerdauernde oder hochdosierte Schmerzbehandlung mit Acetylsalicylsäure zu viele Risiken birgt, gibt es nur ausnahmsweise Gründe gegen den gelegentlichen Einsatz dieses Medikaments.
Nicht-steroidale Entzündungshemmer
Ähnliche Überlegungen gelten zu der Anwendung der übrigen nicht-steroidalen Entzündungshemmer. Auch im Fall von Diclofenac (Voltaren® u.a.), Ibuprofen (Brufen® u.a.) und Konsorten sind uns die Risiken heute verhältnismässig gut bekannt. Wichtig ist die Erkenntnis, dass diese Medikamente nicht nur störende – und vereinzelt lebensbedrohliche – Magen-Darm-Läsionen, sondern (im Gegensatz zur niedrig dosierten Acetylsalicylsäure!) auch relevante Herzprobleme verursachen können. Es bestehen wenig Zweifel, dass zwischen den verschiedenen nicht-steroidalen Antirheumatika wie auch gegenüber der «Sonderklasse» COX-2-Hemmer gewisse klinisch bedeutsame Unterschiede bestehen; dennoch dominieren die gemeinsamen Eigenschaften dieser Medikamente. Nicht-steroidale Antirheumatika sind bei Gelenkschmerzen meistens besser wirksam als Paracetamol.(6) Es ist deshalb nicht sinnvoll, diese Medikamente zu Gunsten von weniger gut dokumentierten Substanzen gänzlich zu vermeiden. In der Praxis gilt es, diejenigen Patientinnen und Patienten zu identifizieren, die ein erhöhtes gastro-intestinales oder kardiovaskuläres Risiko aufweisen, und diese nur zurückhaltend – oder bei entsprechender Anamnese gar nicht – mit nicht-steroidalen Antirheumatika zu behandeln. Protonenpumpenhemmer vermögen gastro-intestinalen Komplikationen vorzubeugen. Da von mehreren Protonenpumpenhemmern Generika verfügbar sind, ist eine entsprechende Ko-Medikation nicht mehr prohibitiv teuer.
Metamizol
Sehr viel weniger wissen wir über Nutzen und Risiken von Metamizol (Novalgin® u.a.), das heute in der Schweiz ungewöhnlich häufig verschrieben wird. Nach modernen Kriterien ist dieses Medikament absolut ungenügend dokumentiert.(7) Dies beruht in erster Linie auf der Tatsache, dass es in vielen Ländern der westlichen Welt verboten ist, da es eine Agranulozytose verursachen kann. Man hat sich vor Jahren relativ intensiv mit der Frage des Agranulozytose-Risikos unter Metamizol befasst und es ist möglich, dass diese Gefahr nicht wirklich grösser ist als beispielsweise die Gefahr einer Magenblutung unter nichtsteroidalen Antirheumatika. ( Ein direkter Vergleich existiert allerdings nicht und die Meinungen der Fachleute gehen weit auseinander. ) Das ändert jedoch nichts daran, dass man mit Metamizol eine Substanz verschreibt, deren Eigenschaften nicht befriedigend charakterisiert sind. Soweit Studienresultate vorliegen, beziehen sich diese mehrheitlich auf die intravenöse Verabreichung. Sind aber 500 mg Metamizol ( per os ) analgetisch besser wirksam als 500 mg Paracetamol? Eine sichere Antwort kann nicht gegeben werden; die bescheidenen Daten lassen auf eine etwa äquivalente Wirkung schliessen. Einige wenige weitere Vergleichsstudien liegen vor; gemäss ihren Resultaten ist Metamizol einmal etwas weniger und einmal etwas besser wirksam als z.B. nichtsteroidale Entzündungshemmer. Metamizol verursacht nicht nur Agranulozytosen, sondern nach der vorliegenden Literatur noch einige andere Komplikationen: aplastische Anämie, anaphylaktischer Schock, Bronchospasmen, fixes Arzneimittelexanthem, akutes Nierenversagen, gastrointestinale Blutungen, Cholestase – alles Probleme, der Häufigkeit weitgehend unbekannt ist. Ich vertrete deshalb die Meinung, dass wir auf Metamizol grundsätzlich verzichten sollten.
Opioide
Auch die verschiedenen Opioide erfreuen sich in den letzten Jahren zunehmender Beliebtheit, auch zur Behandlung von Personen, die keineswegs unheilbare Krankheiten aufweisen. In den USA hat sich die Zahl der Verschreibungen von Opioiden seit 1990 verzehnfacht; entsprechend sind auch mehr Personen in eine iatrogene Abhängigkeit geraten. Während die Zahl Heroin-bedingter Todesfälle im letzten Jahrzehnt einigermassen stagnierte, hat sich die Zahl der Personen, die infolge unbesichtigter Überdosierung von Opioid-Schmerzmitteln von rund 2000 im Jahr 1999 auf über 11‘000 im Jahr 2007 vervielfacht. Die enorme Zunahme der Verschreibung beruht mindestens teilweise auf der intensiven Werbung für die Retardform von Oxycodon (Oycontin®),(8) also für ein Medikament, das auch in Europa aktiv propagiert wird.
Es mag sein, dass die Zahlen in der Schweiz nicht ganz so dramatisch aussehen wie in den USA. Tatsache ist aber, dass auch hier ungewöhnlich häufig Opioide für Schmerzen verordnet werden, die zweifellos auch mit anderen Mitteln (und insbesondere auch nicht-medikamentös!) behandelt werden könnten. Auch bei uns sind es häufig ältere Frauen mit Schmerzproblemen, denen Opioide verschrieben werden.
Vor diesem Hintergrund erscheint es beunruhigend, dass Opioide wahrscheinlich eine gefährlichere Bedrohung darstellen als die heute oft geschmähten nicht-steroidalen Antirheumatika. Eine neue Studie, in der das Nebenwirkungsrisiko verschiedener Analgetika anhand der Verschreibungsdaten bei «Medicare»-Versicherten in zwei amerikanischen Bundesstaaten untersucht wurde, kommt zu alarmierenden Resultaten: Unter Opioiden ist die Gesamtmortalität signifikant höher («Hazard Ratio» 1,87, bei einem 95%-Vertrauensintervall von 1,39 – 2,53) als unter nicht-steroidalen Antirheumatika. (Im Vergleich dazu ist die Mortalität unter COX-2-Hemmern nicht höher als unter «gewöhnlichen» Antirheumatika.) Auffällig ist das unter Opioiden massiv erhöhte Frakturrisiko («Hazard Ratio» von 4,47).(9) Die Meinung, mit Opioiden eine gutartigere Analgesie als mit anderen Mitteln zu realisieren, ist also falsch. Meine persönliche Erfahrung, die ich allerdings nicht mit Zahlen belegen kann, ist die: Opioide werden primär im Spital verordnet und lassen sich dann in der ambulanten Praxis nicht mehr gut absetzen.
In diesem Sinne möchte ich alle Verantwortlichen, insbesondere aber die Chefärztinnen und Chefärzte dazu aufrufen, eine zurückhaltendere Verschreibungspraxis zu üben und auf Opioide in der Austrittsverordnung zu verzichten.
Gründe für die Problematik
Sucht man nach Gründen für die unbefriedigende Verschreibungspraxis, so drängen sich namentlich zwei Überlegungen auf. Da ist zunächst die Tatsache, dass ein grosser Teil der Schmerzmittel keinen Patentschutz geniessen. Die Industrie finanziert aber in der Regel keine Studien mehr, wenn sie nicht finanziell davon profitieren kann. Dies hat zur Folge, dass «alte» Medikamente – auch wenn sie vielleicht in grosser Zahl verschrieben werden – nicht nach aktuellen Ansprüchen dokumentiert sind. Metamizol ist dazu ein besonders krasses Beispiel. Hinzu kommt noch, dass die Hochschulen oft zu wenig an «banalen» Fragestellungen – z.B. an prospektiven und kontrollierten Vergleichen zwischen älteren Schmerzmitteln – interessiert sind. Damit wirklich die Interessen kranker Menschen gewahrt und solche Studien durchgeführt würden, wäre es wohl notwendig, dass die Arzneimittelbehörden die weitere Zulassung an entsprechende Daten knüpfen würden. Einmal mehr gewinnt man aber den Eindruck, den Behörden liege weniger an den Interessen der Kranken als an denjenigen der Industrie.
Ein zweiter Grund ist bei den Verschreibenden selbst zu suchen. Warum fordern wir nicht bessere Daten? Und weshalb folgen wir beim Verschreiben so leicht den «Moden»? Man kann es wohl nicht zu oft wiederholen: eine gute Therapie beruht auf dem zurückhaltenden und sorgfältig individualisierten Verschreiben, wobei in allen Fällen der Aspekt der Placebowirkung jeder Therapie mitberücksichtigt werden muss.
Etzel Gysling
Literatur
- 1) Gysling E. pharma-kritik 1979; 1: 71-2
- 2) Toms L et al. Cochrane Database Syst Rev 2008; (4): CD004602
- 3) Watkins PB et al. JAMA 2006; 296: 87-93
- 4) González-Pérez A, RodrÃguez LA. Basic Clin Pharmacol Toxicol 2006; 98: 297-303
- 5) Kirthi V et al. Cochrane Database Syst Rev 2010; (4): CD008041
- 6) Towheed TE et al. Cochrane Database Syst Rev 2006; (1): CD004257
- 7) Gysling E. pharma-kritik 2008; 30: 41-3
- 8) Okie S. N Engl J Med 2010; 363: 1981-3
- 9) Solomon DH et al. Arch Intern Med 2010; 170: 1968-78
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