Canagliflozin
- Autor(en): Etzel Gysling
- pharma-kritik-Jahrgang 36
, Nummer 1, PK925
Redaktionsschluss: 7. April 2014
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2014.925 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Canagliflozin (Invokana®) ist ein neues Medikament zur oralen Behandlung eines Typ-2-Diabetes.
Chemie/Pharmakologie
Canagliflozin hemmt den Natrium-Glukose-Cotransporter 2 («sodium-glucose co-transporter 2», SGLT2). SGLT2 ist ein Membranprotein, das vorwiegend in der Niere vorkommt; es ist dafür verantwortlich, dass Glukose aus dem Primärurin in den proximalen Nierentubuli in die Epithelzellen aufgenommen und damit die renale Glukose-Rückresoption sichergestellt wird. Die Hemmung von SGLT2 führt zu einer vermehrten renalen Glukoseausscheidung und senkt so die Glykämie. Die Glukoseausscheidung hat eine osmotische Diurese zur Folge und kann daher den Blutdruck senken. Ein weiteres Transportprotein, SGLT1, findet sich ebenfalls in der Niere, reguliert aber nur etwa 10% der Glukose-Rückresorption. SGLT1 ist in der Darmwand für die Glukose- und Galaktoseaufnahme verantwortlich; Canagliflozin hemmt SGLT1 viel weniger als SGLT2, kann aber doch zu einer verzögerten intestinalen Glukoseaufnahme führen. Das neue Medikament ist nicht verwandt mit bisher erhältlichen Antidiabetika; voraussichtlich werden jedoch in Kürze weitere ähnliche SGLT2-Hemmer eingeführt.
Pharmakokinetik
Nach oraler Aufnahme erreicht Canagliflozin innerhalb von 1 bis 2 Stunden maximale Plasmaspiegel. Es ist durchschnittlich zu 65% bioverfügbar. Für den Metabolismus sind in erster Linie zwei Glukuronosyltransferasen (UGT1A9 und UGT2B4) verantwortlich. Die O-Glukuronid-Metaboliten sind inaktiv. Zytochrome spielen eine geringe Rolle. Die Plasmahalbwertszeit liegt im Bereich von 11 bis 13 Stunden. Innerhalb von 4 bis 5 Tagen wird ein Fliessgleichgewicht («steady state») erreicht. Die Elimination erfolgt zu 40% mit dem Stuhl und zu 30% mit dem Urin.
Klinische Studien
Gemäss den bei den amerikanischen Behörden (FDA) verfügbaren Daten wurden mit Canagliflozin neun Phase-3-Studien durchgeführt.(1) An diesen waren gesamthaft über 10ʼ000 Patientinnen und Patienten beteiligt. Alle diese Personen hatten einen Typ-2-Diabetes, der unter der vorausgehenden Therapie nicht ideal unter Kontrolle war (HbA1c zwischen 7,0 und 10,5%). Canagliflozin wurde meistens in Tagesdosen von 100 mg und 300 mg getestet. Dabei wurde das Medikament als Monotherapie sowie in verschiedenen Kombinationen mit anderen Antidiabetika eingesetzt. Der primäre Endpunkt der Studien war die Veränderung des HbA1c-Wertes vom Studienbeginn bis am Ende der Doppelblindphase.
Als Monotherapie erbrachte Canagliflozin in einer 26-wöchigen Doppelblindstudie mit 584 Personen eine HbA1c-Senkung von 0,77% (mit 100 mg/Tag) bzw. 1,03% (mit 300 mg/Tag), während es unter Placebo zu einem leichten HbA1c-Anstieg (um 0,14%) kam.(2)
In den meisten anderen Studien wurde Canagliflozin zu Metformin (Glucophage® u.a.) hinzugefügt, teilweise noch in Kombination mit anderen Antidiabetika:
In einer grossen Doppelblindstudie erhielten 1450 Personen während 52 Wochen zusätzlich zu Metformin Canagliflozin (100 oder 300 mg/Tag) oder Glimepirid (6 oder 8 mg/Tag, Amaryl® u.a.). Die HbA1c-Werte wurden von Canagliflozin in der Tagesdosis von 100 mg ähnlich stark gesenkt wie von Glimepirid (um 0,82 bzw. 0,81%); die höhere Canagliflozin-Dosis war etwas wirksamer (HbA1c –0,93%, statistisch signifikant).(3)
Eine andere Studie diente dem Vergleich von Canagliflozin (100 oder 300 mg/Tag) und Sitagliptin (100 mg/Tag, Januvia®, Xelevia®) als Zusatz zu Metformin. Ein Teil der insgesamt 1284 Teilnehmenden erhielt für die ersten 26 Wochen nur Placebo als Zusatz. Bei diesen fand sich eine signifikante HbA1c-Senkung um 0,79 (100-mg-Dosis) und um 0,94% (300-mg-Dosis) gegenüber einer Senkung von nur 0,17% unter Placebo. Nach 52 Wochen Behandlung ergab sich unter der 100-mg-Dosis und unter Sitagliptin eine ähnliche HbA1c-Senkung (um 0,73%); die 300-mg-Dosis war überlegen (HbA1c –0,88%, statistisch signifikant).(4)
755 Diabeteskranke, die auf eine kombinierte Metformin-Sulfonylharnstoff-Therapie ungenügend angesprochen hatten, erhielten für ein Jahr Canagliflozin (300 mg/Tag) oder Sitagliptin (100 mg/Tag). Mit Canagliflozin wurde eine stärkere Senkung der HbA1c-Werte (um 1,03%) erreicht als mit Sitagliptin (um 0,66%).(5)
Praktisch in allen Studien konnte unter Canagliflozin auch eine Abnahme der Blutzuckerwerte (nüchtern und postprandial), des Körpergewichts und des systolischen Blutdrucks beobachtet werden. Mit Metformin oder mit anderen SGLT2-Hemmern – wie z.B. Dapagliflozin (Forxiga®), das bereits in mehreren Ländern erhältlich ist – ist das Medikament bisher nicht direkt verglichen worden. Von einer Studie, in der Diabeteskranke mit einem hohen kardiovaskulären Risiko oder einer entsprechenden Anamnese mit Canagliflozin behandelt werden (CANVAS-Studie), sind bisher erst Zwischenresultate bekannt (siehe unten). Diese lassen jedoch nicht den Schluss zu, dass Canagliflozin kardiovaskuläre Ereignisse verhüten würde.(1)
Unerwünschte Wirkungen
Unter Canagliflozin werden häufig Mykosen im Genitalbereich beobachtet (bei >10% der Behandelten, nur bei Männern mit Zirkumzision seltener). In den Studien hatten ferner etwa 5% der aktiv Behandelten Harnwegsinfekte. Infolge der von Canagliflozin hervorgerufenen osmotischen Diurese (mit Polyurie/Pollakisurie) kann es zu einem Defizit des Blutvolumens kommen, mit orthostatischen Beschwerden. Auch sind erhöhte Kreatininwerte, Hyperkaliämie, Hypermagnesiämie und Hyperphosphatämie festgestellt worden. Es besteht der bisher nicht eindeutig bestätigte Verdacht, dass unter Canagliflozin mehr Frakturen auftreten.(1)
Hypoglykämien sind unter Canagliflozin kaum häufiger als unter Placebo, auch nicht in Kombination mit Metformin (bei 3 bis 5% der Behandelten).
Canagliflozin führt zu einem Anstieg der LDL-Cholesterinwerte (bei 300-mg-Tagesdosen durchschnittlich etwa +0,2 mmol/l). In der CANVAS-Studie wurde eine Häufung kardiovaskulärer Ereignisse in den ersten vier Wochen einer Behandlung mit Canagliflozin beobachtet.(1) Im weiteren bisherigen Verlauf dieser Studie zeigte sich jedoch kein Unterschied mehr zwischen Canagliflozin und Placebo. (Schlussresultate der CANVAS-Studie werden erst etwa 2017 vorliegen.)
Interaktionen
UGT-Induktoren wie Phenytoin (Phenhydan® u.a.), Rifampicin (Rimactan® u.a.) oder Ritonavir (Norvir®, in Kaletra®) reduzieren die Canagliflozin-Plasmaspiegel. Canagliflozin kann anderseits die Digoxin-Plasmaspiegel ansteigen lassen. Entsprechende Dosisanpassungen können notwendig sein.
Dosierung, Verabreichung, Kosten
Canagliflozin (Invokana®) ist als Filmtabletten zu 100 und zu 300 mg erhältlich; das Präparat ist in der Schweiz limitiert kassenzulässig. Zugelassen ist Canagliflozin bei Personen mit Typ-2-Diabetes, die mit einer adäquaten Diät und körperlicher Aktivität keine genügende Verbesserung der Glykämie erreichen. Das neue Medikament kann als Monotherapie oder in Kombination mit Metformin oder anderen Antidiabetika (auch mit Insulin zusammen) verwendet werden. Es wird empfohlen, mit einer Dosis von 100 mg/Tag zu beginnen und die Dosis in Abhängigkeit von den Glykämie-Werten bis auf maximal 300 mg pro Tag zu steigern. Die Einnahme soll vor der ersten Mahlzeit des Tages erfolgen. Bei Personen mit einer mässig eingeschränkten Niereninsuffizienz (errechnete Kreatininclearance unter 60 ml/min) muss die Tagesdosis auf 100 mg beschränkt bleiben; bei Individuen mit einer Kreatininclearance unter 45 ml/min ist Canagliflozin kontraindiziert. Mangels entsprechender Dokumentation sollen auch schwangere und stillende Frauen sowie Kinder und Jugendliche nicht mit Canagliflozin behandelt werden.
Eine Behandlung mit Canagliflozin (300 mg/Tag) kostet mindestens 92 Franken monatlich; die Behandlung mit Metformin (2 g/Tag) kostet dagegen nur 14 bis 15 Franken monatlich. Viele neuere Antidiabetika sind jedoch ebenfalls teuer, siehe Tabelle (Seite 2).
Kommentar
Ein andersartiger Wirkungsmechanismus verspricht einen möglichen therapeutischen Zusatznutzen, eröffnet aber auch das Potential neuer, allenfalls grösserer Probleme. Noch lässt sich nicht zuverlässig abschätzen, was dies für Canagliflozin bedeutet. Dass es aber falsch ist, sich exklusiv an den HbA1c-Werten zu orientieren, sollte heute klar sein. Trotz «signifikanter» HbA1c-Senkung konnte beispielsweise für Alogliptin (Vipidia®) und Saxagliptin (Onglyza®) kein kardiovaskulärer Nutzen nachgewiesen werden.(6,7) Mit anderen Worten: es ist unerlässlich, dass für Antidiabetika ein klinischer, insbesondere kardiovaskulärer Nutzen in adäquaten Studien gezeigt werden kann.(8) Dass in diesem Zusammenhang der LDL-Cholesterinanstieg unter Canagliflozin nicht gerade ein gutes Omen darstellt, ist klar.
Literatur
- 1) FDA Center of Drug Evaluation and Research: Summary Review204042Orig1s000: http://goo.gl/IjFiLv
- 2) Stenlöf K et al. Diabetes Obes Metab 2013; 15: 372-82
- 3) Cefalu WT et al. Lancet 2013; 382: 941-50
- 4) Lavalle-González FJ et al. Diabetologica 2013; 56: 2582-92
- 5) Schernthaner G et al. Diabetes Care 2013; 36: 2508-15
- 6) White WB et al. N Engl J Med 2013; 369: 1327-35
- 7) Scirica BM et al. N Engl J Med 2013; 369: 1317-26
- 8) Hiatt WR et al. N Engl J Med 2013; 369: 1285-7
- 9) Egan AG et al. N Engl J Med 2014; 370: 794-7
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