Medikamentenabusus
- Autor(en): Daniele Zullino, Natalie Marty
- pharma-kritik-Jahrgang 45
, Nummer 5, PK1285
Redaktionsschluss: 31. März 2024 - PDF-Download der Printversion dieses Artikels
Am 15. November 2017 starb der Rapper Lil Peep im Alter von 21 Jahren an einer versehentlichen Überdosis Fentanyl und Alprazolam (Xanax®). Dieses tragische Ereignis hat eine neue Diskussion über die zunehmende Normalisierung und Verherrlichung des Missbrauchs verschreibungspflichtiger Medikamente ausgelöst.
Der Begriff «Medikamentenmissbrauch» wird uneinheitlich verwendet. Auch für die englischsprachigen Begriffe «misuse» und «abuse» gibt es verschiedene und teilweise überlappende Definitionen.(1) In der deutschsprachigen S3-Leitlinie «Medikamentenbezogene Störungen»(2) wird der nicht bestimmungsgemässe Konsum von Substanzen unterteilt in Off-label-Anwendung, Medikationsfehler und unabsichtlichen oder absichtlichen Fehlgebrauch. Im «Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders» (DSM-5-TR) sind Missbrauch und Abhängigkeit im Oberbegriff «Substanzgebrauchsstörung» (substance use disorder) zusammengefasst.(3)
Das Bundesamt für Gesundheit listet als relevante psychoaktive Medikamente mit Abhängigkeitspotential folgende auf: opioidhaltige Schmerzmittel, Schlaf- und Beruhigungsmittel (Benzodiazepine, Barbiturate, Z-Medikamente), opioidhaltige Hustenmittel (besonders Codein und Dextromethorphan), Anregungsmittel (z.B. Methylphenidat) sowie Narkosemittel und Gase (z.B. Ketamin und Gamma-Hydroxybutyrat GHB).(4) Neben dem besorgniserregenden Anstieg des Konsums von Opioiden, Benzodiazepinen und Amphetaminen weisen Berichte auf den zunehmenden Abusus verschiedenster anderer Arzneimittel hin.(5,6) In Chatforen sind Anwendungsratschläge und Triperfahrungen online leicht zugänglich. Weil diese Medikamente in Apotheken verkauft werden, werden sie von manchen Jugendlichen als «sauber» und daher «sicher» betrachtet.
Zur Verstärkung der Wirkung werden Wirkstoffe, die eigentlich zur oralen Anwendung vorgesehen sind, manchmal auch intranasal inhaliert oder intravenös appliziert. Die intranasale Applikation («Sniffen») ermöglicht eine direkte Resorption in den Blutkreislauf unter Umgehung des First-Pass-Metabolismus in der Leber. Überdosierung kann je nach Wirkstoff zu zentralnervösen Wirkungen wie Krampfanfällen, Delirium, Atemdepression, Koma oder kardialen Nebenwirkungen wie Rhythmusstörungen sowie zu zahlreichen anderen gefährlichen toxischen Wirkungen führen. Oft werden Substanzen untereinander oder mit Alkohol kombiniert. Neben den spezifischen Risiken der einzelnen Substanzen können dann die durch Mischkonsum ausgelösten Wechselwirkungen lebensgefährlich werden.
Interaktionen werden auch absichtlich und gezielt eingesetzt, z.B. durch gleichzeitige Einnahme von Dextromethorphan mit Medikamenten, die dessen Abbau hemmen. In Onlineforen wird nicht nur über Triperfahrungen diskutiert, sondern auch ausführlich über die Pharmakokinetik und das Interaktionspotential der Wirkstoffe. Glücklicherweise finden sich darunter auch wichtige Warnungen; korrekte Informationen lassen sich allerdings oft kaum von Fehlinformationen unterscheiden.
Sogenannte neue psychoaktive Substanzen («Designer-Drogen», «Research Chemicals», «Legal Highs») bringen zusätzliche Probleme, da sie kaum erforscht sind. Einige dieser Substanzen wurden als Medikamente entwickelt, haben aber aufgrund ihrer unerwünschten Wirkungen nie eine Zulassung erhalten. Drogenlabors entwickeln durch geringfügige Änderungen in den chemischen Strukturen von Suchtmitteln laufend neue Designer-Drogen, die hauptsächlich im Internet bzw. Darknet angeboten werden.(7) Dies zwingt die Behörden, die Verzeichnisse der kontrollierten Substanzen fortlaufend zu erweitern. Seit Dezember 2011 sind in der Schweiz 287 Einzelsubstanzen und 15 Gruppen (Derivate) in das Verzeichnis e (Anhang 6) der Betäubungsmittelverzeichnisverordnung aufgenommen worden.(8,9)
Zunehmend werden auch Überschneidungen zwischen dem Markt für illegale Drogen und dem Markt für neue psychoaktive Substanzen beobachtet, z.B. gefälschte Oxycodon-Tabletten, die potente Benzimidazol-Opioide enthalten, oder mit neuen Benzodiazepinen gefälschte Alprazolam- und Diazepam-Tabletten. Wer solche Fälschungen unwissentlich konsumiert, ist einem erhöhten Risiko gefährlicher Überdosierungen ausgesetzt.(10)
Im nachfolgenden Artikel soll vor allem auf Medikamente eingegangen werden, die absichtlich als Droge konsumiert werden. Beispiele von «Strassennamen» sind jeweils in Anführungszeichen und in kursiver Schrift dargestellt. Zitate aus Internet-Foren sind unverändert in der jeweiligen Original-Schreibweise übernommen worden.
Opioide
Die Opioid-Problematik betrifft längst nicht nur Heroin, Morphin und Codein oder die zur Suchtbehandlung verwendeten Wirkstoffe wie Buprenorphin (Subutex® u.a. − «Subs», «Big Whites», «Strips») und Methadon («Meta», «Dolly»). Zunehmende Verschreibung von Opioiden, veränderte Wahrnehmung von Schmerzen und irreführende Werbung bezüglich der Sicherheit von Opioiden werden als Hauptursachen der Opioid-Epidemie in den USA betrachtet.(11) Berüchtigt ist der Zusammenhang mit der aggressiven Vermarktung von OxyContin®, einer Retardform von Oxycodon.(12) Die Herstellerfirma Purdue Pharma wurde 2007 zu einer Strafe von 635 Millionen US-Dollar verurteilt, weil das Medikament − ohne dass es dazu irgendwelche Belege aus klinischen Studien gab − als im Vergleich zu anderen Opioiden weniger süchtig machend und weniger missbrauchsanfällig beworben worden war. Der damalige FDA-Vorsitzende David Kessler wird mit der Aussage zitiert, die Entstigmatisierung von Opioiden sei einer der grossen Fehler der modernen Medizin.(13) Zwischen 1997 und 2002 hat sich in den USA der Umsatz von Oxycodon und Methadon fast vervierfacht. Auch in der Schweiz wurde eine deutliche Zunahme des Verbrauchs von starken Opioiden beobachtet.(14) Wenn nicht durch ärztliche Verordnung, werden die medizinisch als Schmerzmittel eingesetzten Opioide über das Internet beschafft, neben Oxycodon (Oxycontin® u.a. – «Blueberries», «Hillbilly Heroin», «Oxy») z.B. auch Tilidin (Valoron® u.a. – «Tilis») oder Tramadol (Tramal® u.a. – «Chillpills», «Trammies», «Ultras»).
Das hochpotente Analgetikum Fentanyl wird unter Namen wie «China White», «Drop Dead» und «Flatline» verkauft.
Auch nichtmedizinische Fentanylanaloga wie Alfentanil, Sufentanil und Remifentanil, das Tierarzneimittel Carfentanil und andere synthetische Opioide wie Brorphin, Etonitazol und MT-45 geben weltweit Anlass zur Sorge. Zu den «neuen psychoaktiven Substanzen» gehören Verbindungen, die teilweise schon vor Jahrzehnten synthetisiert wurden, aber erst vor kurzem auf dem illegalen Drogenmarkt aufgetaucht sind.(15) Die meisten haben ähnliche Wirkungen wie Morphin. Nicht-pharmazeutische Fentanyle werden auch als «synthetisches Heroin» verkauft.(16)
Lebensgefährlich ist auch die Streckung von Heroin durch solche «Designer»-Fentanyle mit einer um ein Vielfaches verstärkten Wirkung. In Deutschland haben Fachleute im November 2023 vor einem möglichen starken Anstieg der Drogennotfälle gewarnt, weil Heroin immer häufiger mit Beimischungen von synthetischen Opioiden wie Fentanyl oder Nitazenen versetzt werden.(17)
Das Codein-Analogon Dextromethorphan (Bexin® u.a. − «DXM»), das keine typische Opiatwirkung aufweist, wird aufgrund seiner dosisabhängig auftretenden psychotropen Wirkungen zur Erlangung eines Rausches verwendet.(18) Je nach Dosierung werden vier Plateaus beschrieben, wobei das 1. Plateau als schwach stimulierend, das 2. Plateau als leicht berauschend, das 3. (ab 7,5 mg/kg Körpergewicht) als unangenehm und das 4. Plateau als gefährlich erlebt wird. Im Internet ist reines Dextromethorphan-Pulver erhältlich, ebenso Anleitungen zur Herstellung von konzentriertem Pulver aus Erkältungsmitteln. Es gibt auch zahlreiche Online-Rechner, um je nach Körpergewicht und verwendetem Präparat die Dosis für die verschiedenen Plateaus zu berechnen.
Der Abusus kann gefährliche psychotische Reaktionen (mit dem Risiko für Gewalttätigkeit und Suizide) auslösen.(19,20) Das mit Dextromethorphan assoziierte Risiko eines Serotoninsyndroms steigt dosisabhängig. Bei einer Überdosierung von kombinierten Erkältungsmitteln, die auch Paracetamol enthalten, besteht zudem die Gefahr einer lebertoxischen Paracetamol-Wirkung.
«Ich hab immer maximal 10 Ratiopharm Hustenstiller genommen (also 220mg DXM). Nur bei dem Trip mit dem Loslösen vom Körper, waren es 250mg wenn ich mich richtig erinnere. Aber auch bei denen Malen wo es nur 220mg waren, sind immer starke Halluzinationen aufgetaucht. Zudem Körpergefühle wie auf Ketamin. Jedoch hab ich auch immer Herzprobleme und meistens Übelkeit bekommen.» (Zitat aus einem Onlineforum)
«Purple drank», «Dirty Sprite», «Lean» sind Beispiele für Strassennamen von Cocktails unterschiedlicher Zusammensetzung, die von Rappern und in sozialen Netzwerken populär gemacht wurden. Sie bestehen meist aus opioidhaltigen Medikamenten wie codeinhaltigem Hustensaft, Antihistaminika wie Promethazin sowie Limonade, manchmal auch Dextromethorphan. Im Rahmen der Revision des Schweizer Heilmittelgesetzes wurde seit 2019 die Abgabe von codein- und dextromethorphanhaltigen Arzneimitteln aufgrund ihres Missbrauchs- und Interaktionspotentials strenger reglementiert.
Loperamid (Imodium® u.a.) ist ein synthetisches Opioid, das in therapeutischen Dosen normalerweise keine zentralnervösen Wirkungen hat. Das leicht zugängliche Antidiarrhoikum wird nicht bestimmungsgemäss verwendet, um die Symptome eines akuten Opioid-Entzugs zu mildern oder um einen euphorisierenden Effekt zu erzielen.(21) Dabei werden Dosen bis über 700 mg pro Tag eingenommen. Zusätzlich zu den Risiken der Opioidtoxizität kann dies zu lebensgefährlichen QTc-Verlängerungen führen.(22) Loperamid wird manchmal zur Erhöhung seiner Plasmaspiegel auch absichtlich mit P-Glykoprotein-hemmenden Arzneimitteln wie z.B. mit Chinidin kombiniert.
«Loperamid kann ohne Probleme die Blut-Hirn-Schranke passieren und wird dann wieder durch ein p-Glykoprotein rausgeschmissen. Das ist eine Effluxpumpe / Membrantransporter / Carrier (kein Enzym), der Stoffe wieder aus dem Gehirn schmeißt, die da nicht hingehören. Durch verschiedene Medikamente die hier schon erwähnt wurden, kann man diesen Membrantransporter sättigen, sodass er keine Kapazität mehr für das Loperamid hat und dieses daher im Gehirn bleibt. Auf solche Experimente würde ich allerdings verzichten, da Loperamid ca. 200x potenter als Morphin ist.» (Zitat aus einem Onlineforum)
Anxiolytika und Sedativa
Anxiolytika und Sedativa werden aufgrund ihrer erregungs- und angstmindernden Wirkung («Chillen») verwendet, z.B. Alprazolam (Xanax® − «Xanny», «Zannies»), Clonazepam (Rivotril® u.a.), Diazepam (Valium® − «Vallies»), Flunitrazepam (Rohypnol® − «Roofies», «Forget Me Pill»), Lorazepam (Temesta®), Midazolam (Dormicum® − «Dormis», «Sleeping Pills») und Oxazepam (Seresta®), ebenso die sogenannten Z-Substanzen Zolpidem (Stilnox® u.a.) und Zopiclon (Imovane® u.a.). Auch wenig erforschte Benzodiazepine wie Flualprazolam («Flualp»), das nie als Medikament registriert wurde, sind über das Internet erhältlich.
Benzodiazepine werden auch als «Downers» benutzt, um die Nachwirkungen von aufputschenden Drogen («Uppers») zu bekämpfen oder um Horrortrips durch halluzinogene Substanzen vorzubeugen. Die gegensätzliche Wirkung der Kombination erhöht das Risiko einer Überdosierung, die auch zeitverzögert auftreten kann.
«Speed btw ziehe ich garnicht mehr, ohne n leichtes benzo dabei zu haben, diese überhektischen gedanken, ekelhafter bewegungsdrand, evtl paras...» (Zitat aus einem Onlineforum)
Barbiturate werden wegen ihrer sedativen und schlafanstossenden, bei einer längerdauernden Einnahme aber auch stimmungshebenden Wirkung nicht bestimmungsgemäss verwendet. Chronischer Konsum führt zu einer Toleranzentwicklung bezüglich der erhofften Wirkungen; die dadurch motivierten Dosissteigerungen erhöhen die Gefahr einer lebensgefährlichen akuten Intoxikation. Der abrupte Entzug von Barbituraten kann lebensbedrohlich sein. Die Entzugssymptome sind ähnlich wie jene beim Alkoholentzug.
Sympathomimetika
Die stimulierenden und euphorisierenden Wirkungen der Amphetamine prädestinieren sie für einen Abusus als «Gehirndoping», aber auch als Partydrogen. Das zum Durchhalten langer Partynächte verwendete «Speed» kann in illegalen Labors hergestelltes Amphetamin oder Methamphetamin enthalten.(23)
Das in der Schweiz nicht zugelassene Medikament Adderall®, eine Mischung aus Dexamphetamin und Amphet-amin zur Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung, hat in den USA vor allem als «Studenten-Droge» zu einem massiven Missbrauchsproblem geführt.
Die ZNS-stimulierende Wirkung von Methylphenidat (Ritalin® u.a. – «The Smart Drug», «Vitamin R», «Ritas») ist umso ausgeprägter, je höher die Anflutungsgeschwindigkeit ist, wozu es auch intranasal oder intravenös angewendet wird.
Ephedrin, ein adrenerger Alpha- und Betaagonist, und seine Derivate sind in verschiedenen Erkältungsmitteln enthalten. Ephedrin- und Pseudoephedrin-haltige Arzneimittel dienen als Grundstoff für die Herstellung von Methamphetamin («Crystal Meth»).
Anästhetika und Mittel zur Behandlung der Narkolepsie
Das «dissoziative» Anästhetikum Ketamin (Ketalar® u.a., «K», «Special K», «Vitamin K») hat komplexe Auswirkungen auf verschiedene Neurotransmitter. Als Anästhetikum bewirkt Ketamin eine Narkose, indem es eine Analgesie mit einem Zustand veränderten Bewusstseins hervorruft. In niedrigeren Dosen hat es psychoaktive Eigenschaften.(24) Die euphorisierenden und dissoziativen Wirkungen werden manchmal «K-Land» genannt. In hohen Dosen treten immobilisierende und halluzinogene Wirkungen auf, die als «K-Hole» bezeichnet werden. Das «K-Hole» wird oft als Nahtoderlebnis oder Auflösung der eigenen Existenz beschrieben. Zu den durch Gebrauch von Ketamin ausgelösten Problemen gehören unter anderem Beeinträchtigung von Aufmerksamkeit und Gedächtnis, Schäden im Harntrakt, Magenschmerzen und Depressionen. Typische Symptome bei Überdosierung: Somnolenz bis Koma, Halluzinationen, Delir, Amnesie, Agitation, Miosis, Nystagmus, Panik, Tachykardie, Hypertonie, Schwitzen, Dysphorie, Angst. Das mit Ketamin verwandte Anästhetikum Phencyclidin (PCP), das eine 10-mal stärkere Wirkung hat, wird nicht mehr medizinisch eingesetzt, jedoch unter Namen wie «Angel Dust» als Partydoge verkauft.
Das in den berüchtigten «K.O.-Tropfen» manchmal enthaltene Narkosemittel Gamma-Hydroxybutyrat, «GHB», und dessen zur Behandlung der Narkolepsie zugelassenes Salz Natriumoxybat (Xyrem®) werden ebenfalls als Partydrogen («Liquid Ecstasy») verwendet. Hohe Dosen sind wahrscheinlich langfristig neurotoxisch. Hauptsymptome einer akuten Intoxikation sind: Koma, Bradykardie und Myoklonien, Bradypnoe oder Apnoe, Amnesie, Somnolenz, Schwindel, Ataxie, Euphorie, rauschartiger Zustand, Verwirrtheit, Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen, anfallähnliche unwillkürliche Bewegungen, beim Aufwachen oder bei Stimulation häufig vorübergehende Agitation, Aggressionen. Die Entzugssymptome ähneln denen des Alkohols und können manchmal bizarr anmutende delirähnliche Zustandsbilder hervorrufen.
Das Psychoanaleptikum Modafinil (Modasomil® u.a. – «Attentive Child», «BrainQuicken»), das zur Behandlung der Narkolepsie zugelassen ist, wird vor allem als Mittel zum Wachbleiben und wegen seiner leistungssteigernden Wirkung nicht bestimmungsgemäss verwendet.
Antihistaminika
Ältere Antihistaminika mit sedierenden und anticholinergen Eigenschaften wie Diphenhydramin (Benocten® u.a., «DPH»), Dimenhydrinat (Trawell®) und Doxylamin (Sanalepsi®) werden medizinisch zur Behandlung von Schlafstörungen, als Mittel gegen Reisekrankheit und in Kombinationsprodukten gegen Erkältungen eingesetzt. Im Rahmen einer Substanzgebrauchsstörung werden sie zusammen mit anderen Substanzen (z.B. mit Dextromethorphan) konsumiert, um deren Nebenwirkungen wie Übelkeit zu bekämpfen, manchmal aber auch zur Verstärkung der Triperfahrung. In Dosierungen ab 200 mg kann Diphenhydramin halluzinogen wirken und einen Rausch hervorrufen, ähnlich wie bei einem anticholinergen Syndrom. Oft wird das Auftreten von imaginären Personen und Kreaturen beschrieben, insbesondere von Spinnen.
«Das DPH hat mir den ganzen DXM-Trip versaut, vor allem stimmungsmässig war ich total am Ende. (…) Es hilft zwar tatsächlich gegen die Übelkeit, die beim draufkommen aufkommt, aber mir macht es zumindest den ganzen Trip kaputt.» (Zitat aus einem Onlineforum)
Die therapeutische Breite der H1-Antagonisten ist eher gering, was die Gefahr einer Überdosierung mit schweren Nebenwirkungen erhöht. Unter anderem kann sich ein lebensbedrohliches anticholinerges Syndrom ausbilden. Die sogenannte «Benadryl Challenge», zu der durch Videos auf der Plattform TikTok aufgerufen wurde, hat zu Todesfällen bei Jugendlichen geführt.(25) Dabei ging es darum, eine zu Halluzinationen führende Diphenhydramin-Dosis einzunehmen, den Rauschzustand zu filmen und dieses Video online hochzuladen. Schwere Symptome sind in der Regel ab 1000 mg zu erwarten. Mögliche schwere Symptome sind tonisch-klonische Krämpfe, Koma, toxisches Delir, Psychose, EKG-Veränderungen (QT- und QRS-Verbreiterung, Blockbilder), schwere arterielle Hypertonie und Rhabdomyolyse. Bei Doxylamin sind schwere Verläufe ab 400 mg möglich.
Gabapentinoide
Gabapentin (Neurontin® u.a.) und Pregabalin (Lyrica®) werden medizinisch bei neuropathischen Schmerzen und Epilepsie eingesetzt; Pregabalin ist auch zur Therapie generalisierter Angststörungen zugelassen. Die Bindung der Gabapentinoide an Kalziumkanäle in der Zellmembran von erregbaren Zellen führt zu einer Abnahme der neuronalen Erregbarkeit. Darüber hinaus wird angenommen, dass Gabapentinoide möglicherweise direkte/indirekte Auswirkungen auf das dopaminerge Belohnungssystem haben.(26) Sie werden in bis 20-fach erhöhten Dosierungen als Drogen verwendet. Die meisten Berichte beziehen sich allerdings auf Personen mit einer anderen aktuellen oder früheren Substanzkonsumstörung.(27) Bei Pregabalin-Dosen von weniger als 3 g kommt es meist nur zu leichten Symptomen.
«Allgemein empfinde ich Lyrika als Motivationssteigernd bis ins manisch Euphorische. Man ist gut ge-uppt, jedoch gleichzeitig auch sehr entspannt und Angstbefreit.» (Zitat aus einem Onlineforum)
Antidepressiva
Ein häufig genanntes Motiv für den Abusus verschiedener Antidepressiva in hohen Dosen und über diverse Verabreichungswege ist das Erzielen einer Psychostimulantien-ähnlichen Wirkung.(28) MAO-Hemmer werden auch verwendet, um die Wirkung anderer Drogen zu verlängern oder zu verstärken. Je nach Substanzklasse ist mit unterschiedlichsten negativen Folgen zu rechnen, unter anderem wurde über Krampfanfälle und psychoseähnliche Symptome berichtet.
Esketamin (Spravato®), das S-Enantiomer von Ketamin, das zur Behandlung therapieresistenter Depression als Nasenspray eingesetzt wird, weist das gleiche Missbrauchspotential auf wie Ketamin.
Neuroleptika
Zu den Gründen für den nichtmedizinischen Konsum verschiedenster Neuroleptika gehört die Verwendung als Sedativum, «sich wohlfühlen», aber auch «Erholung» von anderen Substanzen oder Verstärkung der Wirkung anderer Substanzen.(29) In einer Auswertung der WHO-Datenbank Vigibase wurde Olanzapin (Zyprexa® u.a.) überproportional häufig als vorsätzlich durch Jugendliche fehlgebrauchter Wirkstoff gemeldet.(30) Gemessen an der absoluten Zahl der Berichte war Quetiapin (Seroquel® − «Susie-Q», «Baby Heroin») in dieser Untersuchung allerdings die führende Substanz.
Promethazin (Phenergan®, in der Schweiz nicht mehr erhältlich) wird vermutlich vor allem in Kombination mit Opioiden konsumiert.(31,32)
«Sero[quel] wirkt nur 1. un 2. mal... Danach is des nemmer so extrem sedativ... Ich nehm des fast immer, wenn ich nen Upper-Disaster im Bett habe und nicht schlafen kann …» (Zitat aus einem Onlineforum)
Muskelrelaxantien
Baclofen (Lioresal® u.a.) wird seit Jahren «off label» bei Alkoholabhängigkeit verwendet. 2018 wurde es für diese Verwendung auf öffentlichen Druck hin in Frankreich als erstem Land offiziell zugelassen; diese Indikation wird aber von Experten nach wie vor kontrovers beurteilt. Missbrauch von Baclofen scheint vor allem Personen mit einer Suchtvorgeschichte zu betreffen. Es gibt auch primären Abusus, bei dem die Suche nach der häufig als Nebenwirkung einer Baclofen-Einnahme auftretenden Euphorie im Vordergrund zu stehen scheint.(33)
Langzeitfolgen
Über die Langzeit-Auswirkungen des nicht bestimmungsgemässen Konsums gibt es wenige, aber besorgniserregende Forschungsdaten. Eine kanadische Studie hat z.B. für Personen mit einem Ereignis von Arzneimitteltoxizität in der Vorgeschichte ein 15-fach erhöhtes Risiko einer Enzephalopathie gefunden.(34) In einer grossen Umfrage unter Benzodiazepin-Konsumierenden wurden auch nach dem Absetzen der Medikamente zahlreiche anhaltende Symptome gefunden, für die der Begriff «Benzodiazepin-induzierte neurologische Dysfunktion» (BIND) vorgeschlagen wurde.(35)
Diskutiert werden auch durch den Abusus psychoaktiver Drogen induzierte epigenetische Veränderungen.(36,37) Bisher kann allerdings nicht als gesichert betrachtet werden, dass die beschriebenen Symptome Folge einer Benzodiazepin-Einnahme sind und nicht einfach darauf beruhen, dass die ursprüngliche Symptomatik wieder manifest wird.
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