Ocrelizumab
- Autor(en): Etzel Gysling
- pharma-kritik-Jahrgang 40
, Nummer 3, PK1047
Redaktionsschluss: 29. Juni 2018
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2018.1047 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Ocrelizumab (Ocrevus®) ist neu zur intravenösen Behandlung einer schubförmig remittierenden oder einer primär progredienten Multiplen Sklerose (MS) zugelassen worden.
Chemie/Pharmakologie
Wie Alemtuzumab (Lemtrada®) und Natalizumab (Tysabri®) ist Ocrelizumab ein monoklonaler Antikörper. Dieser «humanisierte» Antikörper wird in Ovarzellen von chinesischen Hamstern hergestellt. Ocrelizumab bindet sich an ein Oberflächenprotein (CD20) der B-Lymphozyten, was zu einer Zytolyse führt. Das neue Mittel hat somit eine ähnliche Wirkung wie die anderen beiden erwähnten Antikörper (die sich jedoch an andere Proteine binden).(1) Der genaue Wirkungsmechanismus dieser «immunmodulatorischen» Vorgänge bei MS ist nicht bekannt.
Pharmakokinetik
Das Medikament wird intravenös infundiert. Die terminale Plasmahalbwertszeit wird auf 26 Tage geschätzt. Man nimmt an, dass es im Körper durch proteolytische Enzyme zu kleinen Peptiden und Aminosäuren abgebaut wird.(1)
Klinische Studien
In einer frühen Dosisfindungsstudie wurde Ocrelizumab in zwei verschiedenen Dosierungen doppelblind mit Placebo und offen mit Interferon-beta-1a (Avonex®) verglichen. 220 Personen mit einer dokumentierten schubförmig remittierenden MS, die in den drei Jahren vor der Studie mindestens zwei MS-Schübe gehabt hatten, wurden aufgenommen und randomisiert auf die vier gleich grossen Gruppen verteilt. In einer ersten 24-Wochen-Phase wurde Ocrelizumab in der Dosis von 300 oder 1000 mg initial zweimal (im Abstand von 2 Wochen) injiziert; Injektionen von Interferon-beta-1a (30 mcg) erfolgten einmal wöchentlich. Weitere 24-Wochen-Phasen folgten, während denen aber alle Teilnehmenden Ocrelizumab erhielten. Der primäre Endpunkt war die Zahl Gadolinium-verstärkter Läsionen im MRI des Gehirns. In beiden Ocrelizumab-Gruppen war die Gesamtzahl solcher Läsionen nach 12, 16, 20 und 24 Wochen signifikant kleiner als in der Placebogruppe.(2)
Zwei Doppelblindstudien (OPERA I und OPERA II) wurden nach einem identischen Protokoll durchgeführt und gemeinsam publiziert. Insgesamt 1656 Personen mit einer aktiven schubförmig remittierenden MS erhielten für eine Studiendauer von 96 Wochen Ocrelizumab-Infusionen (initial zweimal 300 mg im Abstand von 2 Wochen, dann 600 mg alle 24 Wochen) oder Interferon-beta-1a (Rebif®, dreimal wöchentlich 44 mcg subkutan). Aufgrund der Resultate nach 96 Wochen kam es unter Ocrelizumab durchschnittlich zu 0,16 Schüben pro Jahr. Unter Interferon betrug dieser Wert 0,29 – d.h. es traten annähernd doppelt so häufig MS-Schübe auf wie unter Ocrelizumab. Nach 12 und nach 24 Wochen war der Prozentsatz der Personen mit einer Zunahme der Behinderung signifikant grösser in der Interferon-Gruppe; so waren z.B. nach 12 Wochen 9,1% in der Ocrelizumab-Gruppe und 13,6% in der Interferon-Gruppe stärker behindert. Auch die Zahl Gadolinium-verstärkter Hirnläsionen war deutlich grösser in der Interferon-Gruppe.(3)
In einer weiteren Doppelblindstudie («ORATORIO») wurde Ocrelizumab bei primär progredienter MS getestet. Von 732 Patientinnen und Patienten mit dieser Form einer MS wurden 488 im 24-Wochen-Zyklus mit Ocrelizumab als Infusion (jeweils 300 mg im Abstand von 2 Wochen) und 244 mit entsprechenden Placebo-Infusionen behandelt. Die geplante Studiendauer betrug mindestens 120 Wochen; die Studie wurde aber weitergeführt, solange in der ganzen Studie nicht bei einer vorher bestimmten Zahl von Personen (253) eine anhaltende Verschlechterung aufgetreten war. Der primäre Endpunkt der Studie entsprach dem Prozentsatz der Behandelten, die nach 12 Wochen eine Zunahme ihrer Behinderung erlebt hatten. Letztere wurde mit der Zunahme um 1 Punkt auf der «Expanded Disability Status Scale» EDSS (siehe Tabelle 1)(4) gegenüber dem Studienbeginn definiert. Dieser Endpunkt wurde in der Ocrelizumab-Gruppe bei 32,9% und in der Placebo-Gruppe (statistisch signifikant häufiger) bei 39,3% erreicht. Zu späteren Zeitpunkten konnte das etwas bessere Resultat unter Ocrelizumab bestätigt werden. Auch in Bezug auf die nachweisbaren Hirnläsionen und auf das Hirnvolumen ergab sich für mit Ocrelizumab Behandelte ein Vorteil.(5) Gemäss den von den Arzneimittelbehörden veröffentlichten Subgruppenanalysen ist anzunehmen, dass Ocrelizumab besonders bei jüngeren Leuten mit deutlicher Entzündungsaktivität wirksam ist.(6)
Ocrelizumab ist mit keinem der neueren MS-Medikamente – Alemtuzumab, Natalizumab u.a. -kontrolliert verglichen worden.
Ocrelizumab wurde initial bei rheumatoider Arthritis in vier grossen Doppelblindstudien untersucht und erweis sich dabei als mindestens ähnlich wirksam wie andere biologische Basismedikamente. In diesen Studien wurde Ocrelizumab in zwei Dosierungen (zwei Infusionen mit je 200 mg bzw. 500 mg) – meistens in Kombination mit einer Methotrexat-Therapie – getestet. Da jedoch besonders unter der höheren Ocrelizumab-Dosis eine grössere Zahl von gefährlichen Infektionen als unter Placebo auftrat,(7) hat die Herstellerfirma diese Indikation nicht weiter verfolgt. Auch eine Studie bei Lupus-Nephritis wurde abgebrochen, da es unter Ocrelizumab zu mehr gefährlichen und opportunistischen Infekten kam als unter Placebo.
Unerwünschte Wirkungen
Infusionsreaktionen kommen (besonders bei der ersten Infusion) bei sehr vielen Behandelten vor: am häufigsten sind verschiedene Hautreaktionen, Fieber, Kopfschmerzen, Hypotonie, Atembeschwerden und Müdigkeit. Viele weitere Symptome sind beobachtet worden. Solche infusionsbedingte Symptome können auch noch in den 24 Stunden nach der Infusion auftreten. Gefährliche Reaktionen (anaphylaktischer Schock, Hypotonie, Herzrhythmusstörungen) sind nicht selten, in Einzelfällen kann es zu lebensbedrohlichen Reaktionen kommen.
Viel häufiger als in den Interferon-Gruppen sind Infektionen der Atemwege sowie Herpesinfektionen. Gefährliche Infektionen sind, wie oben erwähnt, in den Studien bei rheumatoider Arthritis beobachtet worden. Sehr häufig findet sich eine Verminderung der Neutrophilenzahl und der Immunglobuline. Ocrelizumab kann zur Antikörperbildung führen. Mindestens ein Fall einer wahrscheinlichen Leukoenzephalopathie ist bekannt.(8) Die bisher vorliegenden Daten lassen zudem annehmen, dass unter Ocrelizumab auch häufiger Krebs (z.B. ein Brustkrebs) auftritt als in den Vergleichsgruppen.
Die Herstellerfirma hat zu Ocrelizumab einen «Public Risk Management Plan» (RMP) veröffentlicht, der via die Swissmedic-Site abrufbar ist.(9)
Interaktionen
Wahrscheinlich kann Ocrelizumab mit anderen Immunmodulatoren vermehrt Probleme verursachen; dies ist jedoch nicht dokumentiert.
Dosierung, Verabreichung, Kosten
Ocrelizumab (Ocrevus®) wird als Konzentrat zur Herstellung von Infusionslösungen angeboten. Das Präparat ist limitiert kassenzulässig. Jeweils 300 mg sollen mit 250 ml isotonischer Natriumchloridlösung verdünnt und langsam infundiert werden (zuerst nur 30-40 ml/Stunde, dann jeweils nach ½ Stunde Tempo verdoppeln, bis auf maximal 180 bis 200 ml/Stunde). Die empfohlene Dosis beträgt 600 mg alle 6 Monate; zu Beginn der Therapie sollen die 600 mg auf zwei Infusionen zu 300 mg (im Abstand von 2 Wochen) verteilt werden; später kann die Dosis in einer Infusion gegeben werden. Eine halbe Stunde vor den Infusionen sollen 100 mg Methylprednisolon (Solu-Medrol®) intravenös sowie ein Antihistaminikum verabreicht werden. Während der Infusion ist eine adäquate Reanimationsbereitschaft sicherzustellen. Beim Auftreten einer stärkeren Reaktion muss die Infusion abgebrochen werden. Schwangere und stillende Frauen, Personen unter 18 Jahren und solche mit einer erhöhten Infektanfälligkeit (z.B. HIV-Kranke), einer aktiven Infektionskrankheit (z.B. Tuberkulose) oder einer fortgeschrittenen Herzinsuffizienz sollen nicht mit Ocrelizumab behandelt werden.
Die Kosten einer Behandlung mit 600 mg (inkl. Zusatzmedikation) betragen ungefähr 12‘300 Franken, was Jahreskosten von CHF 24'600 entspricht. Ocrelizumab kostet damit etwas mehr als Interferon, ähnlich viel wie andere neuere MS-Medikamente, aber weniger als Alemtuzumab (wobei eine Alemtuzumab-Therapie auf zwei Jahre beschränkt ist).
Kommentar
Für die Behandlung einer schubförmig remittierenden multiplen Sklerose stehen heute viele neuere Medikamente zur Verfügung, die offenbar besser wirken als die schon länger etablierte Interferon-Therapie, aber kaum miteinander verglichen worden sind. Ocrelizumab ist in dieser Hinsicht nicht besser oder gar, gemäss einem indirektem Vergleich, weniger wirksam als das ähnliche Alemtuzumab.(10) Grundsätzlich wäre daher die Zeit reif für eine grosse unabhängige Studie, in der die neueren MS-Medikamente (und vielleicht auch die «off label» verwendeten Cladribin und Rituximab) kontrolliert verglichen würden. Ob eine solche Studie in Anbetracht der dominierenden finanziellen Interessen der verschiedenen Anbieter je zustandekommt, ist allerdings fraglich.
Bei der Wertung der relativ bescheidenen Wirkung von Ocrelizumab bei primär progredienter MS fällt das Risiko von gefährlichen Infektionen und Malignomen – das sich in den Studien bei rheumatoider Arthritis gezeigt hat – ins Gewicht. Ob eine einzige Studie genügt, um das Nutzen/Risiko-Verhältnis von Ocrelizumab bei primär progredienter MS adäquat zu beurteilen, ist zu bezweifeln. Dies ist wohl auch bei der Einschränkung der Zulassung in der EU und in den USA auf frühe Fälle dieser MS-Formen mit Entzündungsaktivität berücksichtigt worden. Eine uneingeschränkte Zulassung wie in der Schweiz muss als sehr fragwürdig bezeichnet werden.
Literatur
- 1) Frampton JE. Drugs 2017; 77: 1035-41
- 2) Kappos L et al. Lancet 2011; 378: 1779-87
- 3) Hauser SL et al. N Engl J Med; 2017 ; 376: 221-34
- 4) Montalban et al. N Engl J Med 2017; 376: 209-20
- 5) EDSS: https://pkweb.ch/2KAtocj
- 6) EMA-Dokument:http://www.ema.europa.eu/docs/en_GB/document_library/EPAR_-_Product_Information/human/004043/WC500241124.pdf
- 7) Emery P et al. PLoS Med 2014; 9: e87379
- 8) Kadish R et al. Neurology 2018; 90 (15 Supplement): P5.353
- 9) Public Risk Management Plan: via https://pkweb.ch/2KqPEZY
- 10) Comi G et al. Neurology 2017; 88 (16 Suppl, AAN 69th Annual Meeting Boston)
Standpunkte und Meinungen
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