Agomelatin
- Autor(en): Etzel Gysling
- pharma-kritik-Jahrgang 32
, Nummer 12, PK800
Redaktionsschluss: 21. März 2011
DOI: https://doi.org/10.37667/pk.2010.800 - PDF-Download der Printversion dieser pharma-kritik Nummer
Agomelatin (Valdoxan®) wird zur Behandlung von Depressionen bei Erwachsenen empfohlen.
Chemie/Pharmakologie
Agomelatin ist eine Naphthalin-Verbindung, deren Struktur derjenigen von Melatonin recht ähnlich ist. Das Medikament wirkt als Agonist an Melatonin-Rezeptoren (MT1 und MT2); es unterscheidet sich von Melatonin insofern, als es auch antagonistische Wirkung an den (5-HT2c)-Serotoninrezeptoren aufweist. Wie andere Melatonin-Rezeptoragonisten – z.B. das (in den USA zugelassene) Schlafmittel Ramelteon – beeinflusst es den zirkadianen Rhythmus. Via 5-HT2c-Rezeptoren kann die Stimmung sowie das Ess- und Sexualverhalten beeinflusst werden. Auch Mirtazapin (Remeron®) und Fluoxetin (Fluctine® u.a.) wirken an den 5-HT2c-Rezeptoren antagonistisch.
Pharmakokinetik
Bezüglich der Pharmakokinetik gleicht Agomelatin Melatonin ebenfalls sehr stark. Das Medikament wird nach oraler Einnahme rasch resorbiert, jedoch in hohem, individuell sehr unterschiedlichem Ausmass präsystemisch metabolisiert. Die biologische Verfügbarkeit beträgt weniger als 5%. Maximale Plasmaspiegel werden nach 1 bis 2 Stunden erreicht. Die hepatische Biotransformation beruht in erster Linie auf dem Zytochrom CYP1A2; daneben spielen CYP2C9 und CYP2C19 eine – untergeordnete – Rolle. Die Hauptmetaboliten sind pharmakologisch inaktiv. Die terminale Eliminationshalbwertszeit beträgt ungefähr 1½ Stunden. Die Kinetik von Agomelatin wird insbesondere von CYP1A2-Hemmern und -Induktoren beeinflusst. Die Substanz selbst scheint keine hemmende oder induzierende Wirkung auf die Zytochrome auszuüben.
Klinische Studien
Agomelatin ist in mehreren, vorwiegend kurzen Doppelblindstudien in erster Linie mit Placebo verglichen worden; das Medikament wurde bei Personen mit einer mittelschweren bis schweren Depression («major depression») geprüft. Die Beurteilung der Wirksamkeit beruhte dabei meistens auf der Veränderung der Punktezahl auf der «Hamilton Depression Rating Scale 17» (HAM-D17) und zum Teil noch auf anderen Skalen. Während die publizierten Studien eine antidepressive Wirkung annehmen lassen, konnte in einigen nicht-publizierten Studien keine signifikante Wirkung gezeigt werden.(1)
In einer doppelblinden Dosis-Findungsstudie wurden bei insgesamt 711 Personen Agomelatin-Tagesdosen von 1 mg, 5 mg und 25 mg während 8 Wochen mit Placebo und mit Paroxetin (20 mg/Tag, Deroxat® u.a.) verglichen. Gegenüber Placebo war die Punktezahl auf der HAM-D17 unter der 25-mg-Dosis und unter Paroxetin im Studiendurchschnitt signifikant kleiner. Die Zahl der sogen. «Responder» (Personen, bei denen die Punktezahl um mindestens 50% abgenommen hatte) war am Ende der Studie in der 1-mg-Agomelatin-Gruppe am grössten (62,5%) und in der 25-mg-Gruppe annähernd gleich hoch (61,5%); in der Placebo-Gruppe waren 46,3% Responder.(2)
In zwei 6 Wochen dauernden Vergleichen (n=450) mit Placebo wurde die Agomelatin-Tagesdosis nach 2 Wochen von 25 auf 50 mg gesteigert, wenn jemand bis dann nicht auf die Behandlung angesprochen hatte. Nach 6 Wochen ergab sich für die aktiv Behandelten eine signifikant bessere Wirkung als für die mit Placebo Behandelten.(3,4) In der einen Studie betrug der Unterschied der HAM-D17-Punktezahl durchschnittlich 2,4,(3) in der anderen 3,4.(4) In drei anderen, ebenfalls 6 Wochen dauernden, bisher unpublizierten Studien fand sich jedoch in den HAM-D17-Werten kein signifikanter Unterschied zwischen Agomelatin (25 mg/Tag, in einer Studie auch 50 mg/Tag) und Placebo.(1)
Zwei Studien, die 8 Wochen dauerten und beide je über 500 Behandelte umfassten, ergaben bezüglich der Wirksamkeit verschiedener Tagesdosen widersprüchliche Resultate: in der einen Studie ergaben 25 mg/Tag, aber nicht 50 mg/Tag eine bessere Wirkung auf die Depression als die Placebobehandlung,(5) in der anderen Studie war es umgekehrt.(6)
In zwei Studien wurde auch untersucht, ob Agomelatin das Rezidiv einer Depression verhüten kann: Personen, deren Depression auf eine 8- bis 10-wöchige Agomelatin-Behandlung angesprochen hatte, erhielten während 24 oder 26 Wochen doppelblind Agomelatin oder Placebo. Ein Rückfall war als HAM-D17-Wert von 16 oder darüber bzw. als versuchter oder vollendeter Suizid definiert. Eine dieser Studien – in der zusätzlich ein Studienabbruch wegen ungenügender Wirkung als Rückfall galt – ist publiziert: unter Agomelatin kam es bei 20,6%, unter Placebo bei 41,4% zu einem Rückfall.(7) In der anderen, nicht veröffentlichten Studie war die Rückfallhäufigkeit unter Agomelatin (25,9%) praktisch gleich wie unter Placebo (23,5%).(1)
Obwohl mehrere Studien auch Gruppen umfassten, die selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) erhielten, war der Vergleich von Agomelatin und SSRI bezüglich antidepressiver Wirkung nur in einer Studie der primäre Endpunkt: In einer 8-wöchigen Doppelblindstudie mit 515 Behandelten wurde Fluoxetin (20-40 mg/Tag) mit Agomelatin (25-50 mg/Tag) verglichen. In dieser Studie hatte es keine Placebogruppe. Am Studienende war der HAM-D17-Wert unter Agomelatin – statistisch signifikant – um 1,49 niedriger als unter Fluoxetin. In Bezug auf die Zahl der Responder fand sich kein signifikanter Unterschied zwischen den beiden Gruppen. Agomelatin hatte insbesondere eine vorteilhafte Wirkung auf den Schlaf.(8)
Mit Melatonin ist Agomelatin nicht verglichen worden.
Unerwünschte Wirkungen
Die häufigsten unter Agomelatin beobachteten Nebenwirkungen sind Übelkeit und Schwindel. Unter Agomelatin sind mehrfach Synkopen aufgetreten. In einem Fall wurde eine QTc-Verlängerung dokumentiert, die nach dem Absetzen des Medikamentes wieder verschwand.(9) Andere Symptome (z.B. Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Bauchbeschwerden) traten in den Studien ähnlich häufig auch unter Placebo auf.
Ein deutlicher Anstieg der Transaminasen (über das Dreifache des oberen Normwertes) ist jedoch eindeutig häufiger als unter Placebo und scheint auch dosisabhängig zu sein: unter der 50-mg-Tagesdosis wurde diese Anomalie bei 1,39% der Behandelten beobachtet, rund doppelt so häufig wie unter Placebo. Auch Einzelfälle von Hepatitis sind vorgekommen.
Ob es unter einer Agomelatin-Behandlung zu einem erhöhten Suizidrisiko kommen kann, ist nicht bekannt.
Interaktionen
Gleichzeitige Verabreichung von CYP1A2-Hemmern führt zu einem Anstieg der Agomelatin-Plasmaspiegel. Bekannte CYP1A2-Hemmer sind einzelne SSRI wie Fluvoxamin (Floxyfral® u.a.), Chinolone wie Ciprofloxacin (Ciproxin® u.a.), Östrogene und Verapamil (Isoptin® u.a.). Auch Coffein und Grapefruitsaft können CYP1A2 hemmen. Gemäss den Angaben im Arzneimittelkompendium muss bei der Kombination mit Fluvoxamin mit einem 60-fachen Anstieg der Agomelatin-Plasmaspiegel gerechnet werden; die Kombination gilt als kontraindiziert. CYP1A2-Induktoren wie Johanniskraut, Carbamazepin (Tegretol® u.a.), Rifampicin (Rimactan® u.a.), Ritonavir (Norvir®), Chinin, Omeprazol (Antramups® u.a.). Insbesondere aber auch Cannabis und das Tabakrauchen können bei gleichzeitiger Verabreichung die Agomelatinspiegel reduzieren und so seine Wirkung beeinträchtigen. Klinisch relevante Interaktionen mit CYP2C9/19-Hemmern oder -Induktoren sind bisher nicht bekannt. Wie bei anderen zentral dämpfenden Substanzen wird vom gleichzeitigen Alkoholkonsum abgeraten.
Dosierung, Verabreichung, Kosten
Agomelatin (Valdoxan®) ist als Filmtabletten zu 25 mg erhältlich; es ist kassenzulässig, ausser bei Personen, die bei Behandlungsbeginn über 65 Jahre alt sind und noch nie mit Agomelatin behandelt wurden. Die im Arzneimittelkompendium empfohlene Dosierung beträgt 25 mg/Tag (abends einzunehmen); sofern nach zwei Wochen keine Besserung eingetreten ist, kann die Tagesdosis auf 50 mg gesteigert werden. Bei Kindern und Jugendlichen sowie bei Personen über 65 Jahren existiert kein Wirkungsnachweis; entsprechend ist das Arzneimittel für diese Altersgruppen auch nicht zugelassen.
Auswirkungen auf das ungeborene oder gestillte Kind sind ungenügend bekannt; Schwangere und Stillende sollten auf Agomelatin verzichten.
Mit Rücksicht auf das hepatotoxische Potential sollen die Leberenzyme vor und in den ersten sechs Monaten einer Agomelatin-Behandlung alle 2 bis 4 Wochen überprüft werden. Bei einer Störung der Leberfunktion ist Agomelatin kontraindiziert. Bei Niereninsuffizienz wird zu erhöhter Vorsicht geraten.
Agomelatin ist ungewöhnlich teuer: eine Behandlung mit täglich 25 mg kostet 87 Franken pro Monat. Dazu kommen noch die Kosten der vorgeschriebenen Laborkontrollen. Übliche Dosen von SSRI-Generika verursachen dagegen monatliche Kosten in der Grössenordnung von 25 Franken. In Ländern, die einen freien Melatonin-Verkauf kennen (z.B. Kanada), ist Melatonin noch weit billiger.
Kommentar
Obwohl Agomelatin in Europa als Antidepressivum zugelassen ist und zweifellos eine zentralnervöse Wirkung besitzt, kann die antidepressive Wirksamkeit dieser Substanz nicht als genügend dokumentiert bezeichnet werden. Besonders stossend ist es, dass Agomelatin (aus offensichtlichen kommerziellen Überlegungen) bisher nicht mit Melatonin verglichen worden ist. Es ist durchaus möglich, dass die in einem Teil der Studien gefundenen Vorteile gegenüber den Vergleichssubstanzen entscheidend durch eine günstige Auswirkung auf den Schlaf verursacht sind. Agomelatin zeichnet sich durch eine höchst variable, im Einzelfall unvorhersehbare Kinetik aus; eine Dosisabhängigkeit der Wirkung ist in den bisher durchgeführten Untersuchungen nicht klar zu erkennen. Bedenkt man zudem das noch wenig definierte Risiko einer Hepatotoxizität, so lautet der Schluss, dass für Agomelatin ausserhalb von kontrollierten klinischen Studien kein Platz in einer rationalen Behandlung von Depressionen existiert.
Literatur
- 1) EMA-Dokument: http://www.ema.europa.eu/docs/en_GB/ document_library/EPAR_-_Public_assessment_report/human/000915/WC500046226.pdf
- 2) Lôo H et al. Int Clin Psychopharmacol 2002; 17: 239-47
- 3) Kennedy SH, Emsley R. Eur Neuropsychopharmacol 2006; 16: 93-100
- 4) Olié JP, Kasper S. Int J Neuropsychopharmacol 2007; 10: 661-73
- 5) Stahl SM et al. J Clin Psychiatry 2010; 71: 616-26
- 6) Zajecka J et al. J Clin Psychopharmacol 2010; 30: 135-44
- 7) Goodwin GM et al. J Clin Psychiatry2009; 70: 1128-37
- 8) Hale A et al. Int Clin Psychopharmacol 2010; 25: 305-14
- 9) Kozian R, Syrbe G. Psychiatr Prax 2010; 27: 405-7 Mini-Übersicht
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